Nadelstiche
versuchten weiter, sich gegenseitig mit Angsteingeständnissen und Verhaltenstipps zu überbieten. Manny lauschte und wunderte sich, wie gut sie über den Fall informiert waren. Sie war sicher, wenn sie die beiden fragen würde, wie ihr Kongressabgeordneter hieß oder was im Moment zwischen Israelis und Palästinensern vor sich ging, wären sie ratlos, aber was den Vampir anging, da waren sie Experten. Die sensationslüsterne Darstellung in den Medien hatte bewirkt, dass Millionen Leute sich als zukünftige Opfer sahen oder als zukünftige Detectives oder beides.
Schließlich war Manny an der Reihe und knallte eine Packung Kaugummi auf die Theke. »Haben Sie in der letzten halben Stunde einen großen dünnen Mann mit Pferdeschwanz hier in der Gegend gesehen? Könnte sein, dass er in den Club Epoch gegangen ist«, fragte sie die Verkäuferin, während sie bezahlte.
Die Frau schüttelte den Kopf. »War den ganzen Morgen ruhig, bis jetzt.«
Manny ging wieder nach draußen und blickte über die Straße auf das lagerartige schwarz gestrichene Gebäude mit dem großen silbernen E auf der Tür. Das musste es sein. Sie rümpfte die Nase – nicht gerade das, was sie sich unter einem schicken Nachtclub vorstellte. Wartete Deanie allein da drin? Mannys vom Sonnenschein gespeister Optimismus klang allmählich ab. Warum hatte Deanie Sam so überraschend angerufen? Sie musste doch wissen, dass er unter Verdacht stand, Boo ermordet zu haben? War das Ganze vielleicht eine Falle?
Sie wählte erneut Sams Nummer und bekam wieder die Mailbox. Dann rief sie Jake an. »Ich glaube, Sam steckt irgendwie in Schwierigkeiten«, sagte Manny übergangslos. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Dann erklärte sie kurz die Lage.
»Ich komme sofort«, sagte Jake. »Geh bloß nicht allein da rein, hast du mich verstanden?«
»Tu ich schon nicht. Nicht nach gestern. Aber Jake, du brauchst doch mindestens eine Stunde bis hierher.«
»Du hast Glück. Ich bin nicht im Büro. Wir hatten einen ungeklärten Todesfall auf der 44., Ecke 9. Ich bin gerade fertig geworden und ich bin mit einem Dienstwagen hier.«
»Das ist ja ganz nah am Lincoln Tunnel. Es gibt also doch einen Gott!«
»Wie viele Verkehrsregeln hast du überschritten, um die Strecke so schnell zu schaffen?«, fragte Manny, als Jake zwanzig Minuten später ankam.
»Ich musste rechts überholen, aber nur, weil ich einen vor mir hatte, der an jeder gelben Ampel hielt. Dem Kennzeichen nach aus Iowa. Der wusste bestimmt nicht, dass wir hier an der Ostküste bei Gelb Gas geben.«
»Ich finde, die Autobahnbehörde sollte die Regel offiziell machen.« Manny fasste Jake am Ellbogen und zog ihn nach rechts. »Siehst du die schwarze Lagerhalle da? Das ist der Club E. Sam hat gesagt, Deanie hätte ihn heute Morgen angerufen und sich sehr nervös angehört. Sie hat gesagt, sie wüsste, was mit Boo passiert ist, aber sie wollte nicht am Telefon drüber reden.«
»Irgendeine Erklärung für ihren plötzlichen Sinneswandel?«, fragte Jake.
Manny schüttelte den Kopf. »Das macht mir ja gerade Sorgen. Was, wenn es eine Falle ist?«
»Du bleibst hier, und ich geh rein und seh mal nach«, sagte Jake.
»Kommt nicht infrage!«
»Manny, das ist am sichersten. Wenn ich nicht wieder rauskomme, kannst du die Polizei rufen.«
»Vielleicht war es ja die Polizei, die die Falle gestellt hat.
Die suchen nach Boos Mörder. Da drin könnten belastende Beweise auf dich warten. Wenn die Polizei auftaucht, nachdem du gerade zwei Minuten da drin bist, brauchst du eine Zeugin, die deine Aussage bestätigt.«
Jake starrte sie einen Moment lang an, dann drehte er sich um und überquerte die Straße. »Komm schon, Manny. Bringen wir’s hinter uns.«
Er zog an der unauffälligen schwarzen Seitentür des Gebäudes. Sie ging auf, und ein Schwall kalte übel riechende Luft schlug ihnen entgegen. Die Klimaanlage hielt die Temperatur niedrig, aber sie war gegen die Gerüche der Nacht für Nacht schwitzenden, Drinks verschüttenden, kotzenden Gäste des Club E machtlos.
Jake bedeutete Manny, zur Seite zu treten, und spähte in das halbdunkle Innere. Rechter Hand erstreckte sich ein langer Flur, nur erhellt von der Notausgangsbeleuchtung. Geradeaus sah er die riesige Tanzfläche und die Umrisse einer lang gestreckten Bar. Jake zog eine kleine helle Taschenlampe aus der Brusttasche. Ihr Strahl reichte nur bis zu seinen Schuhen, aber es war besser, als blind in den Abgrund zu gehen.
»Deanie! Ich bin’s, Sam
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