Nächsten Sommer
wenn
ich
sie erfüllen soll. Bin doch nicht Gott. Also?« Ich sah ihn an. Er sah mich an.
»Raus damit – ist dein achtzehnter Geburtstag.« Marc blies den Rauch aus, der ihm sofort von den Lippen gerissen wurde. »Heute wird jeder Wunsch erfüllt. Aber
nur
heute. Morgen kannste vergessen.«
Über den Feldern kreisten Bussarde. Aus der Ebene zog wärmere Luft herauf. Ideale Bedingungen. Manche hielten sich minutenlang auf gleicher Höhe, ohne einen Flügelschlag.
»Ich will nicht mehr zurück«, sagte ich.
»Wie meinst’n das?«
Ein Bussard legte die Flügel an und stieß zur Erde hinab, schneller, als mein Flieger in der Felsspalte verschwunden war. »Ich will nicht mehr in die Schule zurück, und ich will auch nicht mehr nach Hause zurück.«
Marc zog ein letztes Mal an der Zigarette. »Das ist dein Wunsch?«
»Ja.«
Er schnippte den Stummel über die Schulter. »Erfüllt.«
Als wir drei Tage später nach Berlin zurückkehrten, ging ich als Erstes meine Sachen packen. Die Schule betrat ich nie wieder.
»Ich denke, wir wollen nach Frankreich«, sagt Bernhard. »Das hier ist … gar nichts.«
Marc steigt aus, streckt sich – Uuuuuuaaaahhhh! –, geht um den Bus und zieht die Schiebetür auf.
»Siehst du den Berg da?«
Bernhard beugt sich vor und streckt seinen Kopf aus der Tür: »Na ja, Berg würde ich das nicht nennen …«
»Nenn es, wie du willst, jedenfalls gehen wir jetzt da rauf.«
Statt ihn auf andere Gedanken zu bringen, haben die vergangenen Stunden lediglich Bernhards Leid zementiert. 85 gestählte Kilo Missmut.
»Und wozu soll das gut sein?«, fragt er.
»Mann, Bernhard!« Marc schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es zu gar nichts gut – vielleicht ist es einfach nur ein großer Stein. Aber vielleicht findest du da oben auch die Antwort.«
|32| »Die Antwort worauf?«
»Auf alles. Das Sein. Du weißt schon: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin – der ganze Scheiß halt.«
Bernhard ist nicht überzeugt. »Aber wenn wir da jetzt raufgehen, dann brauchen wir ja am Ende
noch
länger.«
Das ist der Moment, in dem Marc die Geduld ausgeht. Den ganzen Vormittag hat er dieses Gesicht im Rückspiegel ertragen. Obwohl wir auf dem Weg nach Frankreich sind, ans Meer. Die Bäume sind so grün, dass es in den Augen schmerzt, die Vögel zwitschern, als ginge es um ihr Leben. Jetzt reicht es.
»Hör auf, Bernhard«, sagt er.
»Womit?«
»Du bist sauer, weil Zoe nicht mitgekommen ist – kapier ich. Aber wenn du deshalb jetzt bis Frankreich im eigenen Saft schmorst, dann flambier ich dich spätestens an der Schweizer Grenze!«
Marc hat noch nie länger als eine Nacht im eigenen Saft geschmort – bringt nichts. Deshalb kommen ihm die letzten fünf Stunden bereits wie eine Ewigkeit vor. Bei Bernhard ist das anders. Der würde am liebsten bis ans Ende seiner Tage im eigenen Saft schmoren, sich selbst zum Opfer darbringen. Wie Jesus. Der ultimative Liebesmärtyrer.
»Mach dich locker, Mann«, setzt Marc nach. »Wir sind garantiert nicht vor morgen Abend da. Wenn du jetzt schon anfängst, dich wegen einer Viertelstunde aufzuregen, wird die Fahrt ein Höllentripp für dich.«
Eine Stunde Umweg, mindestens. Um auf einen Basaltklotz zu klettern. Für eine Geste. Für mich. Marc ist der Felsen scheißegal. Dem sagen Basaltklötze gar nichts, und Klettern ist was für Sinnsucher.
Warum Marc ausgerechnet mich zu seinem Freund erwählt hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich für ihn der kleine Bruder, den er nie hatte. Dazu muss man wissen, dass es einen gab. Neun Monate lang. Bis zur Geburt. Marc kam als Erster. Dann gab es Komplikationen. Sein Zwilling starb, bevor er einen Namen hatte. Liegt nahe, so zu denken. Es scheint logisch. Aber mehr auch |33| nicht. Die Leute denken ja immer, sie wüssten so viel, und am Ende stehen sie doch mit leeren Händen da. Vielleicht dachte Marc auch einfach, ich sei der Richtige, um mir seine Songs anzuhören. Ich habe ihn mal gefragt. Warum ich? Seine Antwort: »Was soll’n der Scheiß jetzt?«
Marc geht voran, ich in der Mitte, Bernhard hinterher. Die Brennnesseln sind genauso hoch wie damals. Bernhard tritt auf sie ein, als hätten sie es nur auf ihn abgesehen. Am Felsen angekommen, erweist sich der schwarze Stein als scharfkantig und abweisend, vor allem aber ist er so heiß, dass man sich die Finger daran verbrennt. Bis wir die Spitze erreicht haben, steht jedem von uns der Schweiß auf
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