Nächsten Sommer
Schultor.
Marc lehnte an der Haube und rauchte: »
Ein
Platz ist noch frei.«
Ich muss wohl ausgesehen haben, als sei er gerade vom Himmel gefallen. »Ich hab Schule«, erklärte ich.
»Hatte ich auch mal.«
»
Du
brauchst kein Abitur«, entgegnete ich, »du kannst Gitarre spielen.«
»Und du brauchst keine drei Sekunden, um auszurechnen, was 3256 zum Quadrat ist.«
|29| »8742658.«
»Quot erat demonstrare oder so ähnlich. Face it, Mann: Deine Lehrer kriegen Schweißausbrüche, wenn sie dich sehen. Gönn denen mal ’ne Verschnaufpause.«
Auf dem Schulhof hatten sich Grüppchen formiert. An den Rändern, wie mit einer Zentrifuge gegen die Mauern geschleudert, fand sich eine Handvoll allein Stehender. Heute waren sie einer weniger. Als der Gong ertönte, liefen alle wie Öltropfen zu einer Pfütze zusammen und wurden durch den Eingang gesogen.
Ich warf meine Tasche auf die Rückbank und stieg ein. »10601536«, sagte ich.
»Was ist damit?«
»3256 zum Quadrat – 10601536.«
»Eins so gut wie das andere, wenn du mich fragst.« Marc legte den Gang ein und nickte Richtung Schule. »Sag tschüs.«
Ich blickte die graue Fassade mit den zu kleinen Fenstern empor. »Tschüs.«
An meinem Geburtstag spielten die Death Chunks in einem kleinen Club in Kassel, dessen Wände der Musik kaum standhielten. Am Vortag hatten sie in Marburg gespielt, in einem noch kleineren Club, der ebenfalls nur mit Mühe am Stück geblieben war. Kurz vor Kassel legten wir eine Pause ein. Bis zum Aufbau der Instrumente und dem Soundcheck waren noch drei Stunden totzuschlagen. Alles, was es zu sehen gab, war ein Basaltfelsen, der sich hinter dem Parkplatz in jahrtausendelanger Arbeit durch das Erdreich gedrückt hatte und jetzt wie der verfaulte Zahnstumpf eines Titanen aus der Landschaft ragte.
Ein Trampelpfad führte durch ein Wäldchen und hüfthohe Brennnesselsträucher die Böschung hinauf und endete an einer Felsfalte, die man als Einstieg nutzen und von wo man sich in wenigen Minuten bis auf die Spitze vorarbeiten konnte. Oben war es vor allem windig. Zigarettenstummel, leere Bierflaschen und ein benutztes Kondom zeugten davon, dass vor Marc und mir schon andere auf die Idee gekommen waren, den Felsen zu erklimmen. So ist der Mensch, dachte ich. Stell ihm einen Berg hin, und er klettert rauf. Kürzlich hatte hier jemand seine Lateinarbeit geopfert. In den Ritzen hatten sich DIN-A4-Blätter verfangen: Leoni |30| Kapell, Klasse 9b, Note: 5. Ich schaute auf das benutzte Kondom und fragte mich, ob sie mit ihrer Arbeit auch gleich noch ihre Jungfräulichkeit geopfert hatte.
Marc und ich saßen auf einem Felsvorsprung, blickten nach Süden und kniffen vor der Mittagssonne die Augen zusammen. Felder, Wiesen, ein Dorf zwischen bewaldeten Hügeln, Bäume, eine Eisenbahnschranke – die perfekte Märklin-H0-Landschaft. Ich nahm das Blatt mit der Note, strich es glatt und faltete einen Flieger daraus. Marc zündete sich eine Zigarette an, legte den Kopf in den Nacken und stieß den Rauch aus wie eine Dampflokomotive.
»Moment«, sagte er unvermittelt, als ich den Flieger starten lassen wollte. Noch immer blickte er geradewegs in den Himmel. »Nicht so eilig, mein Freund. Das ist mein Geburtstagsgeschenk.«
Ich betrachtete den Flieger und überlegte, was daran sein Geburtstagsgeschenk sein könnte.
»Brauchst gar nicht so zu gucken«, fuhr Marc fort. »Was du nämlich nicht weißt, ist: Du kannst einen Wunsch mit an Bord nehmen. Pack einen Wunsch rein, und lass ihn fliegen.«
»Und
du
erfüllst dann den Wunsch?«
»Klar, Mann.«
Bei dem Wind würde der Flieger nicht weit kommen. Ich schob ein Kupferstück in den Rumpf und versuchte es in westlicher Richtung, aber kaum hatte er meine Hand verlassen, wurde er herumgerissen und über unsere Köpfe hinweggeweht, wo er anfing zu trudeln und lautlos in eine Felsspalte stürzte.
»Das war wohl nichts«, sagte ich.
»Ist egal, Mann. Hauptsache, dein Wunsch war an Bord.«
»War er.«
»Gut. Und – was war’s?«
Ich blickte auf den Parkplatz hinab und von dort über die Felder. Zwischen dem Bus und uns lagen nicht mehr als 50 Höhenmeter. Und trotzdem: Von dort unten sah man nichts, von hier oben alles. Der Horizont löste sich im Ungewissen auf. Der Wind stellte mir die Haare an den Armen auf, doch wenn er Atem holte, spürte man die letzte Wärme des Jahres auf der Haut.
»Ich dachte immer, solche Wünsche erfüllen sich nur, wenn man sie für sich behält.«
|31| »Nicht,
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