Nächsten Sommer
redet beruhigend auf ihn ein. Bernhard klammert sich an ihr fest und schluchzt mit bebenden Schultern. Wie ich die beiden dasitzen sehe, kommt mir ein sonderbarer Gedanke: Glücklicher als jetzt war er noch nie.
Jürgen hat sich in den Vierfüßlerstand hochgearbeitet. Von seinem Kinn tropft Blut. Als er seinen massigen Körper aufrichtet, hat er Mühe, das Gleichgewicht zu finden. Er ist riesig. Den hätte ich keinen Zentimeter bewegt, geht es mir durch den Kopf. Seine Augen sind verschleiert, das Nasenbein steht schief, die Lippe ist an zwei Stellen aufgerissen. Im Oberkiefer fehlen zwei Zähne, mindestens. Mehr ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Ein Zahn liegt im Gras. Ich hebe ihn auf und halte ihn Jürgen hin, der ihn beim dritten Versuch zu fassen bekommt und in die Tasche steckt.
Statt etwas zu sagen, hebt er abwehrend die Hand: Lass nur, geht schon. Zunächst torkelt er richtungslos über den Rasen – bis er das Tor ausmacht und schwankend darauf zusteuert. Ich begleite ihn, warte, bis er draußen ist, wo er sich noch einmal umdreht und wie zum Gruß die Hand hebt. Dann stolpert er davon Richtung Parkplatz, eine Blutspur hinter sich herziehend. Ich schließe das Tor.
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Zoe und Bernhard sind ins Krankenhaus gefahren. Marc wollte nicht mit. Er hat einen verrenkten Hals, einen Riss im Ohrläppchen und ein nervtötendes Fiepen im Ohr, aber einen Arzt wird er frühestens auf dem Totenbett an sich heranlassen, und so weit ist es noch nicht.
»Hallo, Lilith«, nuschelt er, »schön, dass du mal vorbeikommst.«
Lilith hat noch nicht einmal gewagt, sich zu setzen. Sie steht da, wo sie ihm vorhin auf die Beine geholfen hat. Vor lauter schlechtem Gewissen findet sie keine Worte.
»Er hat gesagt, dass er sich nur bei ihr entschuldigen will – sonst nichts.«
Marc versucht sich an seinem Kaffee, doch das Schlucken bereitet ihm Schmerzen. »Du meinst, wir können uns glücklich schätzen, dass er nicht mit Schützenpanzer und Handgranaten angerückt ist?«
»Tut mir leid. Ich wollte zu euch. Und er hat gesagt, er fährt mich, wenn ich ihm sage, wo ihr seid.«
»Hat ja auch prima geklappt.«
»Tut mir echt leid.«
Jeanne wirkt unglücklicher denn je. »Alles ist mein Schuld«, sagt sie. »Ich hätte nicht mitkommen gedurft.«
»Unsinn«, sagt Marc.
»Totaler Blödsinn«, bestätigt Lilith. »Es war das Beste, was du machen konntest.«
Jeanne sieht nicht überzeugt aus.
Danach sagt erst einmal keiner etwas. Schließlich setzt sich Lilith zu uns an den Tisch. Marc will von seinem Baguette abbeißen, doch jede Kieferbewegung jagt ihm einen Stich in die Schläfen. Also begnügt er sich damit, an einem Croissant zu nuckeln.
Irgendwann sagt er zu Jeanne: »Wozu schlafen wir eigentlich |214|
nicht
miteinander, wenn ich trotzdem was auf die Fresse kriege? Das macht keinen Sinn.« Jeanne weiß nichts zu antworten, also erklärt er: »War nur ein Witz.« Er steht auf und sammelt seine Gitarre ein. »Die gute Emma. Wir waren so ein schönes Paar.«
»Ich kaufe dir eine neue Emma«, bietet Jeanne an.
»Nicht nötig.« Marc besieht sich die Reste. »Ist versichert.«
Jeanne und Marc gehen hinein und legen sich auf das Sofa. Jeanne hält ihren Fuß ruhig, Marc seinen Kopf. Nicht mehr bewegen als unbedingt notwendig. Sie unterhalten sich im Flüsterton frisch Verliebter, nach einigen Minuten ist ein erstes, gedämpftes Lachen zu hören: Wird schon wieder.
Kaum hat Lilith die ersten Bissen verschlungen, kehrt ihre positive Grundstimmung zurück. Sie trinkt und isst und isst und trinkt – wie andere ihr Auto betanken.
»Was ist mit deiner Nase passiert?«, frage ich.
»Gestoßen«, antwortet Lilith mit der Stimme einer gestopften Posaune, »an Jürgens Faust.«
»Jürgen hat dich geschlagen?«
Sie zieht die Schultern hoch. »Ich hab ihm gesagt, dass ich lesbisch bin – war offenbar zu viel für ihn.« Sie blickt sich um, als sei sie eben erst auf die Terrasse gebeamt worden. »Mann, Felix – was für ’ne geile Hütte!«
Sie berichtet, was passiert ist. Wie sie im Zirkuszelt geschlafen und am nächsten Morgen ihren Rucksack gefunden hat und damit nach Riez gelaufen ist, auf einem alten Wanderweg – nur raus aus diesem verrückten Dorf! Der Weg führte auf einem Hügelgrat entlang, Lilith konnte kilometerweit sehen, in jede Richtung. Kein Mensch, kein Haus, kein Auto und kein Handyklingeln. Nur sie und der Himmel über ihr. Ein Gefühl, als trete sie ihrem Schöpfer gegenüber. Das
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