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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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Einzige, was ihr auf dem Weg begegnete, waren zwei Schlangen, die sich auf einem Stein sonnten und eilig im Gebüsch verschwanden, als Lilith in einiger Entfernung mit dem Fuß aufstampfte.
    Für zwei Stunden fiel alles von ihr ab. Zwischendurch söhnte sie sich sogar mit Laura aus, wünschte ihr alles Gute, von Herzen, wünschte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen |215| hatte, glücklich werden, Kinder und eine Familie haben würde. Und nicht irgendwann in der Küche über der Spüle stehen und nur noch wehmütig zurückblicken würde. Selbst der Rucksack wog auf dem Weg nicht schwerer als eine auf die Schulter gelegte Hand. So kam sie in Riez an, verschwitzt und gereinigt.
    Der Weg endete an einer winzigen Kapelle oberhalb der Stadt, in der drei weiß gekleidete Nonnen knieten und mit Engelsstimmen einen Choral anstimmten. Danach löschten sie die Kerzen und verschwanden durch einen Seiteneingang in einem angrenzenden Klostergebäude. Lilith stellte sich auf eine Bank und warf einen Blick über die Mauer. Auf einer Leine hingen drei weiße Laken zum Trocknen. Die drei Nonnen waren offenbar alles, was von dem Kloster noch übrig war. Der Garten atmete eine Ruhe und Gelassenheit, die Lilith erschütterte. »Ganz ehrlich, Felix: Wenn die Christen nicht diesen blödsinnigen Sündenfall erfunden hätten und wir deshalb seit zweitausend Jahren im Staub kriechen müssten … Ich hätte auf der Stelle meinen Rucksack weggeschmissen und wäre über die Mauer geklettert.«
    Stattdessen stieg Lilith als einer von zwei Gästen in einer Pension in Riez ab, und als sie am nächsten Morgen versuchte, einem Bankomat das Geld für die Busfahrt nach Manosque zu entlocken, da stand auf einmal Jürgen neben ihr, sah aus wie ein großer Haufen Elend und Reue und Schlaflosigkeit und fragte: »Wo sind sie hin?«
     
    Bernhards Arm steckt bis zum Ellenbogen in einer giftgrünen Schiene. Vorne schauen nur der Daumen und die Fingerspitzen heraus.
    »So geht er uns wenigstens nicht verloren«, sagt Zoe in Anspielung auf die Farbe.
    »Mensch, Bernhard«, begrüßt ihn Lilith, »dieses Ding macht dich gleich fünf Jahre jünger.«
    »Hab ich mir schon immer gewünscht«, antwortet Bernhard, und so, wie er seinen Arm hebt, in Rocky-Manier, denke ich, dass es wahrscheinlich stimmt. Die Schiene ist ihm Trophäe und Orden zugleich.
    »Wie geht’s?«, ruft Marc vom Sofa.
    |216| Bernhard besieht sich seinen Arm wie einen Fremdkörper. »Wird schon? Was ist mit dir?«
    »Wird schon.«
    »Hast du überhaupt schon was gegessen?«, fragt Lilith.
    Sie rückt Bernhard einen Stuhl zurecht, schneidet ihm ein Baguette auf und belegt es fingerdick mit Serrano-Schinken, als müsse er jetzt vor allem rohes Fleisch zu sich nehmen. Zoe bringt Kaffee, schenkt ihm Saft ein und streicht ihm über die Schulter. Die Sonne hat ihren höchsten Punkt erreicht. Da, wo sie auf die Tischplatte trifft, krümmt sich das Holz unter ihr. Barfuß über die Terrasse zu gehen kommt einem Gang über glühende Kohlen gleich. Die Bienen erfüllen den Rhododendron mit andächtigem Gemurmel.
     
    Wir haben uns im Schatten des Vordachs verteilt wie satte Löwen. Ich habe mich daran erinnert, im Wirtschaftsraum zwei Gartenliegen gesehen zu haben. Jeanne und Marc teilen sich eine. Sobald sie sich mehr als anderthalb Meter voneinander entfernen, scheint eine unsichtbare Kraft sie wieder einander zuzutreiben. Als müssten sie gegen den Strom schwimmen, sobald sie sich in unterschiedliche Richtungen bewegen. Auf der zweiten Liege lagert Bernhard, den Arm auf drei Sofakissen ruhend. Die Betäubung lässt langsam nach. Wann immer er seinen Arm herunternimmt, schwillt seine Hand an, reibt von innen gegen die Schiene, und er hat das Gefühl, als platzten seine frisch genähten Knöchel auf. Zoe und ich haben uns zwei Stühle in den Schatten gezogen, Lilith sich ihre Isomatte ausgerollt.
    Später werde ich denken, dass die Realität irgendwie jedes Hindernis überwindet, da kann die Mauer noch so hoch sein. Und so findet sie auch einen Weg in unseren Garten. Als Bernhards Handy im Schlafzimmer klingelt – der neue Bond-Song – ist es, als habe sich die Luke des Trojanischen Pferdes geöffnet.
    »Es hat schon den ganzen Vormittag geklingelt«, sagt Jeanne.
    Bernhard will nicht rangehen, doch sein Pflichtbewusstsein ist stärker als er. Wenn jemand nach ihm ruft, kann er nicht anders, als diesem Ruf zu folgen. Er steht auf und geht ins Haus.
    »Hier Niemeyer«, sagt er. »Ja, bin

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