Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
Vom Netzwerk:
geschwollene Nase mit den blutunterlaufenen Augen. Sie steht über den Topf gebeugt und fächelt sich Luft zu.
    »Felix, leih mir mal deine Nase«, sagt sie. »Ich riech nix.«
    Wir kochen das Abendessen. In der Küche wabert ein Duft aus Tomaten, Thunfisch, Knoblauch, Zwiebeln, Rosmarin und Thymian. Zoe ist noch immer bei Bernhard im Schlafzimmer, Marc und Jeanne liegen unverändert auf dem Sofa und halten Händchen, als sei es das letzte Mal.
    Die Kräuter für die Soße hat Lilith im Garten zusammengesucht. Den Strauß vor sich hertragend, kam sie in die Küche. »Der Rosmarin hinterm Haus ist so groß wie ein Weihnachtsbaum!«, verkündete sie.
    Ich denke an die Weihnachtsbäume, die Vater Jahr für Jahr anliefern ließ. Keiner in der Straße durfte einen größeren haben.
    Als ich die Tür zum Schlafzimmer öffne, um Zoe zum Essen zu holen, sitzt sie neben dem schlafenden Bernhard wie eine Mutter neben ihrem kranken Kind: eine Hand auf seinem Arm, mit der anderen ein Buch haltend. Ich sage ihr, dass wir essen können, und frage, wie es Bernhard geht. Sie klappt das Buch zu, steht auf, beugt sich über ihn und zupft die Decke zurecht. »Meine Pillen wirken immer«, flüstert sie und folgt mir aus dem Zimmer.
    Wir sitzen über dem Abendessen, als ein kühler Wind salzig vom Meer heraufzieht. Jeanne wickelt sich in ihre Strickjacke ein und schmiegt sich an Marc, Zoe legt sich die Sofadecke um die Schultern.
    »Vielleicht«, sagt sie irgendwann, »hat Bernhards Mutter nur darauf gewartet, dass er mal weg ist.«
    |222| »Du meinst, sie wollte ihm ersparen, dabei zu sein?«, fragt Lilith.
    »Kann doch sein …«
    Der salzige Geruch wird intensiver. Man hat tatsächlich den Geschmack des Meeres auf der Zunge. Die Teller stehen übereinandergestapelt in der Mitte des Tisches. Marc, der sich einen Schal meines Onkels um seinen verrenkten Hals gewickelt hat, dreht sich seinen Guten-Abend-Joint.
    »Ich war noch gar nicht am Meer«, fällt mir plötzlich ein.
    »Ich auch nicht«, sagen Zoe und Lilith wie aus einem Mund.
    Marc leckt das Blättchen an. »Bin gleich so weit.«
     
    Auf dem Wasser explodiert die Sonne in unzählige gleißende Splitter. Ich kneife die Augen zusammen. Zoe hat natürlich ihre Sonnenbrille dabei. Das Meer. Funktioniert immer. Man sieht hinaus, spürt die Weite und die eigene Endlichkeit und weiß alles und nichts zugleich. Mit dem Wind kommen auch die Wellen. Manche tragen weiße Schaumkronen und spritzen auf wie Fontänen, sobald sie den Felsen treffen. Andere reißen ihre Mäuler auf, bevor sie am Ufer lauthals in sich zusammenstürzen.
    Im Windschatten eines Felsens setzen wir uns in den noch warmen Sand. Zoe gräbt ihre Füße ein und wackelt so lange mit den Zehen, bis ihre rot lackierten Nägel sichtbar werden. Lilith sammelt angespülte Stöckchen und steckt einen Kreis um sich ab. Es ist Flut. Nach einiger Zeit fallen die ersten Stöckchen, und wir ziehen uns ein paar Meter zurück. Außer uns sind ungefähr ein Dutzend Menschen in der Bucht. Die wenigsten wagen sich ins Wasser. Zwei Männer in Taucherbrille, Neoprenanzug und Schwimmflossen platschen in die Wellen wie Tiere, die nicht dafür gemacht sind, sich an Land zu bewegen.
    Bernhard kommt mit steifen Knien die Stufen herunter. Sein grüner Gips schimmert durch die Bäume. Wortlos setzt er sich neben Zoe in den Sand. Inzwischen haben die leuchtenden Splitter auf dem Wasser eine goldene Färbung angenommen und sich zu einem Steg verjüngt, der direkt in die Sonne führt. Von Marseille kommend, kreuzen Containerschiffe in regelmäßigen Abständen das Licht mit Kurs auf Italien oder Afrika.
    |223| »Wie geht’s deiner Hand?«, fragt Marc.
    »Wird schon.«
     
    Bernhard beginnt, Steine aufzusammeln, die er über das Wasser springen lässt. Mit links. Drei-, fünf-, siebenmal setzen sie auf. Aber untergehen tun sie alle. Wie die Sonne. Nachdem sie im Meer versunken ist und während die Dämmerung in Dunkel übergeht, verlassen die letzten Besucher die Bucht. Bald ist niemand mehr da außer uns. Die Linie, die das Meer vom Himmel trennt, hat sich aufgelöst.
    Marc war so schlau, eine Flasche Rotwein und einen Korkenzieher mitzunehmen. »Auf deinen Onkel«, sagt er, nimmt den ersten Schluck und reicht die Flasche weiter.
    »Auf dich«, sagt Zoe zu mir.
    Lilith blickt erst mich an, anschließend Zoe, dann wieder mich: »Gibt’s ja gar nicht«, sagt sie, »du stehst auf Zoe!«
    Alle Augen richten sich auf mich.
    »Wie kommst du denn

Weitere Kostenlose Bücher