Nächsten Sommer
ich.« Dann wird es still. |217| Alles, was wir noch hören, ist, wie sich die Tür zum Schlafzimmer schließt.
Marc blinzelt zu mir herüber. Ich antworte mit dem Gesicht dessen, der das Unheil ahnt und nichts dagegen tun kann.
»Soll nicht jemand nach ihm sehen?«, fragt Jeanne.
Zoe will gerade aufstehen, als sich die Schlafzimmertür öffnet und Bernhard mit schweren Schritten durchs Wohnzimmer geht. Er zeigt uns sein Handy, als könne er sich nicht erklären, wie es in seine Hand gekommen ist. Sein Gesicht fällt in sich zusammen.
»Meine Mutter«, sagt er, und dann wissen wir es alle.
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Anfangs denken wir, dass es gut so ist. Soll er rennen. Wenn es das ist, was er jetzt braucht. Vielleicht hilft es ja. Irgendwann musste seine Mutter sterben. Und dann ist es womöglich ganz gut, wenn er jetzt bei uns ist, dass wir hier sind, gemeinsam.
Im Acht-Minuten-Rhythmus kommt er am Haus vorbei, von links nach rechts, von rechts nach links. Ein Keuchen kündigt ihn an, jeder Atemzug eine Kraftanstrengung, wir hören seine Schritte hinter der Mauer, dann passiert er das Tor, und für eine halbe Sekunde laufen er und sein giftgrüner Arm durchs Bild.
Die Nachricht vom Tod seiner Mutter hat auch uns in die Realität zurückgeholt. Nach und nach spüren wir es alle, während wir auf der Terrasse sitzen und überlegen, was wir tun sollen. Wie ein Internist, der vor der Leuchttafel steht, auf den dunklen Punkt der Röntgenaufnahme deutet und sagt: »Sehen Sie das?«
Aus dem Keuchen ist ein Stöhnen geworden. Die Abstände, in denen Bernhard sich an der Mauer vorbeischleppt, haben sich vergrößert. Die Sonne ist unter das Vordach gekrochen und hat sich zentimeterweise über die Fliesen geschoben. Jetzt senkt sie sich. Erste Baumschatten wachsen über die Mauer in den Garten hinein. Eigentlich läuft Bernhard gar nicht mehr. Er stolpert, ohne hinzufallen. Sein Atem pfeift wie der eines Asthmatikers.
»Was hat er vor?«, fragt Jeanne besorgt.
»Sieht aus, als wollte er sich selbst verstoffwechseln«, meint Lilith.
»Wenn der so weitermacht«, sagt Zoe, »können wir ihn direkt ins Krankenhaus zurückbringen.«
|219| Es stimmt, denke ich. Am liebsten würde er sich selbst verstoffwechseln.
Als Bernhard das nächste Mal am Tor vorbeistolpert, gebeugt, mit hängendem Kopf und hängenden Schultern, schlüpft Marc in seine Flip-Flops, reibt sich den Nacken, schlappt die Stufen hinab, schlurft durch den Garten und lehnt sich mit dem Rücken gegen das Tor. Als das Pfeifen zurückkehrt, geht Marc ihm entgegen. Wir hören seine Stimme hinter der Mauer.
»Bleib stehen, Mann!«, ruft er.
»Lass mich!«, entgegnet Bernhard, doch seine Stimme fleht nach Erlösung.
Er trottet am Tor vorbei, Marc mit seinen Flip-Flops hinterdrein.
»Jetzt bleib endlich stehen!« Er überholt Bernhard und stellt sich ihm in den Weg »Hör auf!«
»Lass mich!«
Marc stemmt sich mit der Schulter gegen ihn. »Hör auf mit dem Scheiß!!«
Sie kommen zurück, Bernhard, der Muskelprotz, gestützt vom schmächtigen Marc.
Vor dem Tor bäumt sich Bernhard noch einmal auf. Er kreuzt die Arme vor dem Gesicht, als versuche er, sich vor Schlägen zu schützen. Im nächsten Moment kracht sein grüner Gipsarm mit voller Wucht gegen das Eisentor, das zu läuten anfängt wie eine Glocke, während Bernhard aufschreit, sich den Arm hält und in sich zusammensackt.
Zoe ist es, die das Kommando übernimmt. »Aufs Bett und Schuhe aus.«
Sie holt ein Glas Wasser, löst zwei Tabletten darin auf, zieht verschiedene Schachteln aus ihrem Beautycase und drückt drei unterschiedliche Pillen aus ihren Folien.
»Was ist denn das alles?«, fragt Marc.
Zoe legt die Pillen auf ihre Handfläche. »Schmerz, Schlaf, Regeneration.« Die Pille für Regeneration sieht aus wie ein Kokon für Barbies. »Ich habe Tabletten für und gegen alles. Bernhard …« Ich helfe ihm, sich aufzurichten. Zoe hält ihm die Pillen und das Glas hin. »
Die
schlucken,
das
trinken.«
|220| Bernhard schluckt die Pillen, trinkt das Wasser. Anschließend dreht er sich auf die Seite, Gesicht zur Wand. Zoe zieht sich den Stuhl aus der Zimmerecke heran und setzt sich neben das Bett. »Ich glaube, es ist okay«, flüstert sie uns zu.
Marc, Lilith und ich verlassen leise das Zimmer.
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Lilith sieht aus, als habe sie gerade eine Schönheitsoperation hinter sich gebracht. Das Gesicht klar und lebendig, eingerahmt von ihren wilden Engelslocken, doch in der Mitte, wie aufgesetzt, die
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