Nächsten Sommer
»An dem Lied fummelst du doch schon herum, seit wir losgefahren sind.«
»Da wusste ich eben noch nicht, dass es unser Lied sein würde«, entgegnet Marc. »Als Mozart das Reqiuem schrieb, hat er auch erst nach der Hälfte kapiert, dass es sein eigenes war. Guten Morgen, übrigens, alte Petze.«
Bernhards Zerknirschung ist ihm deutlich anzusehen. Warum nur muss er immer und überall Salz hineinreiben? Als könne er es nicht ertragen, andere Menschen glücklich zu sehen. Er bringt es nicht einmal fertig, sich zu entschuldigen.
Es ist Zoe, die ihm die Hand reicht: »Setz dich – ich bring dir einen Kaffee.«
Morgen bin ich wieder ganz die Alte, hat sie gestern gesagt. Von wegen.
»Danke«, sagt Bernhard, »ich zieh mich nur schnell an.« Mit |208| diesen Worten verschwindet er im Schlafzimmer, macht einhundert Liegestütze und nimmt sich ganz fest vor, diesen Tag noch einmal von vorne zu beginnen, besser.
Doch dazu kommt es nicht. Weder zum Kaffee noch zum Neubeginn.
Bernhard erscheint gerade rechtzeitig zurück auf der Terrasse, um zu fragen: »Wer ist
das
denn?«
Ein Mann kommt den Weg zum Haus herauf. Noch ist er nicht mehr als ein Gartenzwerg, seine Entschlossenheit allerdings umgibt ihn wie ein Strahlenkranz.
Mein Magen zieht sich zu einer walnussgroßen Kugel zusammen. »Mein Vater«, sage ich.
Marc lässt den Akkord ausklingen, den er gerade unter den Fingern hat. »Und wer ist die Frau?«
Aus dem Umriss des Mannes ist eine Frau herausgetreten, die jetzt neben ihm läuft und mit ihm Schritt zu halten versucht. Wann immer sie ein Lichtstrahl trifft, leuchten ihre blonden Locken auf. »Sieht aus wie …«, sagt Zoe.
»… Lilith«, beendet Bernhard den Satz.
»Der Mann«, sagt Jeanne leise, »das ist nicht dein Vater. Das ist Jürgen.«
Wir sitzen da und warten, bis die beiden das Haus erreicht haben. Lange dauert es nicht. Jürgen könnte den Weg nehmen, der an der Mauer entlangführt, oder durch den Garten und über die Holztreppe gehen. Stattdessen trampelt er eine Schneise direkt durch die Rhododendronbüsche. Alles andere als Luftlinie scheint nicht in Frage zu kommen. Er hat so viel Schwung, dass er beinahe den Tisch umreißt, bevor er zum Stillstand gelangt. Jetzt, da er seine Energie nicht mehr in Bewegung umsetzen kann, muss sie woanders raus. Wärme. Jürgen glüht wie ein Heizstrahler.
Er will etwas sagen, doch es findet keinen Weg nach draußen. Jeanne so selbstverständlich mit uns am Tisch sitzen zu sehen ist mehr, als er ertragen kann. Am Ende sagt er: »Was soll’n das werden?«
Jeannes Gesicht bekommt Risse wie ein im Zeitraffer alterndes Gemälde.
|209| Zoe dreht ihre Tasse in den Händen. »Wie wär’s mit ’nem Kaffee?«, schlägt sie vor.
Inzwischen ist auch Lilith auf der Terrasse angelangt, die sich unser Wiedersehen eindeutig harmonischer vorgestellt hat.
Zaghaft hebt sie die Hand. »Tach«, sagt sie durch ihre geschwollene Nase.
Jürgen sieht Jeanne an, und für einen kurzen Moment ist sein Gesicht das eines verletzten Kindes. »’tschuldigung«, platzt es aus ihm heraus. Dabei klingt er unfreiwillig komisch. Er hätte den Riss in seiner Lippe nähen lassen sollen, außerdem stecken noch Blutpfropfen in seiner Nase.
Jeanne schrumpft innerhalb von Sekunden auf ihre halbe Größe zusammen. »Was soll das heißen?«, fragt sie vorsichtig.
»Was das heißen soll?« Jürgen ist kurz davor, die Kontrolle über sich zu verlieren. »Dass es mir leidtut«, erklärt er. »War ’ne Scheißaktion. Und jetzt komm. Bitte.«
»Ich glaube, Sie sollten sich erst mal setzen«, sagt Zoe.
»Und ich glaube, du solltest dich raushalten«, fertigt Jürgen sie ab, ohne seinen Blick von Jeanne zu nehmen. »Hol deine Sachen«, bittet er, um gleich darauf die Tonlage zu verschärfen. »Ich hab’s gesagt – dass es mir leidtut, und jetzt kommst du mit.«
»Hören Sie«, mischt Zoe sich wieder ein, »das geht so n…«
»Du hältst dich da raus, hab ich gesagt!«
Anders als bei meinem Vater geht von Jürgen eine körperliche Bedrohung aus. Dem hat Zoe wenig entgegenzusetzen. Paragraphen helfen hier nicht. Das wäre so, als würde man eine MG-Salve mit homöopathischen Kügelchen beantworten.
»Nein.« Jeannes Stimme ist kaum zu vernehmen. »Ich möchte das nicht.«
»Ich hab’s gesagt, und du kommst jetzt mit!«
Aus dem Augenwinkel sehe ich Bernhard, der im Türrahmen gefangen ist wie in einem elektromagnetischen Feld. Sein Minuspol will wegrennen und sich verstecken, sein
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