Nächsten Sommer
als Verlaufsstudie unterschiedlicher Pastellfarben – von Zartrosa bis Mintgrün, mit Tupfen von gemischtem Deckweiß. »Wie im Bilderbuch«, sagt Zoe. Sie zieht die Beine an die Brust und das T-Shirt über die Knie. Sie hat noch immer nicht mehr an als das und ihren Slip. Man spürt, dass es ein heißer Tag werden wird, doch die Nachtluft liegt noch wie ein kühler Schleier über dem Garten.
»Soll ich dir eine Decke holen?«, frage ich.
Zoe schüttelt den Kopf. »Erzählst du es mir?«
Ich betrachte den Flieger zu meinen Füßen. »War mein erster«, sage ich und berichte, wie Onkel Hugo mir beibrachte, ihn zu falten, und wie er auf dieser scheinbar vorherbestimmten Bahn durch die Zweige des Tannenbaums flog und schließlich in Opas Schoß landete, der nichts davon mitbekam. Zoe stützt ihr Kinn auf die Knie und sagt lange nichts. Währenddessen steigt hinter uns die Sonne auf und färbt die Felsen rosa.
»Schon merkwürdig, oder? Dass dein Onkel ausgerechnet
dir
sein Haus überschreibt.«
Es ist nicht so, dass ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht hätte. Doch es führt nirgendwohin. Davon bin ich inzwischen überzeugt.
»Ich weiß nicht, ob Onkel Hugo in Wirklichkeit nicht mein biologischer Vater war«, antworte ich. »Wenn es das ist, worauf du hinauswillst.
|206| In seinem Schreibtisch habe ich nichts gefunden, was darauf hindeutet. Aber wer weiß: Vielleicht gab es etwas, und mein Vater hat es verschwinden lassen. Schließlich war er vor uns hier. Letzten Endes spielt es keine Rolle. Wirklich: Unterm Strich hat es keine Bedeutung. Manchmal denke ich, dass mein Vater mich gerne geliebt hätte, aber irgendwie nicht konnte. Kann natürlich auch nur Wunschdenken sein. Wer ist schon in der Lage, objektiv auf seine eigenen Eltern zu schauen?
Ich hatte einen Onkel, dem ich offenbar sehr viel bedeutet habe«, fahre ich fort. »Das ist doch eine ganze Menge.« Während ich das sage, streichen meine Finger über das spröde Holz, dessen Maserung über die Jahre kleine Wellen gebildet hat. »Im Ernst: Ich kann mich glücklich schätzen.«
»Was willst du jetzt damit machen?«, fragt Zoe und meint den Papierflieger.
Ich hebe ihn hoch und prüfe sein Gewicht. Es müsste sehr windstill sein, um ihn auf die Reise zu schicken. So windstill, wie es hier wahrscheinlich niemals wird.
»Vielleicht lasse ich ihn irgendwann von der Klippe segeln«, sage ich. »Aber noch nicht so bald.«
»Versteh ich gar nicht«, sagt Zoe, »wo du doch sonst so scharf auf ’s Loslassen bist.«
Ich antworte nicht.
Sie schubst mich an. »War ein Scherz.«
Ich lege den Flieger wieder zwischen meine Füße. »Vielleicht fange ich ja auch gerade an, das Festhalten zu lernen.«
Zoe rückt an mich heran. Ihr Körper schmiegt sich an meinen. »Wie lange wolltest du denn bleiben?«
»Weiß ich noch nicht.«
Plötzlich liegt ihr Kopf auf meiner Schulter. So sitzen wir. Die Sonne beginnt, uns die Rücken zu wärmen und die Nacken zu kitzeln.
Irgendwann wird die Tür geöffnet, und Jeanne fragt: »Soll ich uns eine Kaffee machen?«
Zoe und ich holen Baguettes und Croissants. Als wir zurückkommen, ist der Tisch auf der Terrasse gedeckt, der Garten duftet |207| nach Kaffee, und Marc und seine Sonnenbrille sitzen unter einem blau-weiß gestreiften Schirm und spielen Gitarre. Jeanne sitzt neben ihm, in den Händen eine Kaffeeschale. Sie wirkt, als sei sie gerade aus einem schönen Traum erwacht, um sich in einem noch schöneren wiederzufinden. Es raschelt und krümelt, und in den Kaffeeduft mischt sich der Geruch ofenwarmer Croissants. Zoe sagt, ich müsse die Marmelade versuchen, Aprikose, essbarer Sonnenaufgang.
Marc probiert wieder an dem Lied herum, das ihm bereits auf der Herfahrt keine Ruhe gelassen hat. Er hat ein Picking gefunden, das leichtfüßig ist, ohne den Bodenkontakt zu verlieren, und die Strophe ist selbsterklärend und von einfacher Schönheit, doch der Refrain will sich nicht öffnen, ist wie eine verschlossene Knospe, und auch der Übergang ist nicht organisch. »Das ist kein Übergang«, sagt Marc, »das ist ein Bruch.« Irgendwo auf dem Griffbrett, Marc weiß es, liegt die Antwort versteckt. Doch sie will sich nicht zeigen.
»Was ist das für ein Lied?«, fragt Jeanne.
»Unser Lied«, sagt Marc, »das Lied, von dem ich dir erzählt habe.« Und alle, Marc eingeschlossen, fragen sich, ob er das ernst meint.
»Von wegen.« Bernhard und sein Konfirmantenpyjama haben sich in der Terrassentür materialisiert.
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