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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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darauf?«, frage ich.
    »Logisch stehst du auf Zoe – sieht doch ein Blinder!« Sie schnauft ungläubig. »Dass ich das nicht gleich gemerkt habe …« Die anderen fragen sich, wie es sein kann, dass sie es all die Jahre nicht bemerkt haben. »Aber tröste dich«, fährt Lilith fort, »du bist nicht allein. Mit dir sind es schon drei.«
    Marc sieht sie verwundert an. Bis drei zählen kann er. »Wie kommst du denn auf das schmale Brett?«
    Lilith lächelt ihn an. »Wer redet denn von
dir
?« Sie lässt sich von Zoe die Flasche geben. »Auf mich!«
    Jeanne ist die Nächste. »Auf das Leben.«
    Bernhard zieht das Etikett in Streifen von der Flasche, rollt das Papier zu Kügelchen zusammen und schnipst sie ins Feuer. »Auf den Tod.« Er reicht die Flasche an mich weiter.
    Auf uns, möchte ich sagen, auf jetzt und hier, auf diesen Moment. Am Ende sage ich: »Auf das Meer.«
    Später wird mir dieser Moment wertvoller sein als irgendein anderer der letzten Tage: Jeder weiß, dass es vorbei ist, doch keiner will gehen.
    |224| In den Felsspalten findet sich alles Mögliche: ausgeblichene Zigarettenschachteln, Teile einer Europalette, eine Holzente mit Achsenbruch. Zusammen mit Liliths Stocksammlung sowie zwei Pizzaschachteln, die ich aus dem Mülleimer ziehe, werfe ich alles auf einen Haufen. Ich weiß, dass sich dadurch nichts ändert. Niemand kann die Zeit anhalten. Zwei zusätzliche Stunden, mehr ist nicht drin.
    »Gib mir mal dein Feuerzeug«, sage ich zu Marc.
    Es funktioniert. Schwerfällig zunächst. Doch nach einigen Minuten brennt die Palette, und hüfthohe Flammen lodern empor. Über die roten Felsen züngeln Schatten. Der von Jeanne wabert wie ein Flaschengeist hin und her.
    »Was willst’n jetzt machen?«, fragt Marc, und erst als ihn alle ansehen, ist klar, dass seine Frage an Lilith gerichtet ist.
    Die beobachtet ihre Zehen dabei, wie sie sich in den Sand graben. »Wenn ich das mal wüsste. Eigentlich wollte ich ja immer nach Berlin, so wie ihr. Hab bloß keinen Studienplatz bekommen.« Im Schein des Feuers flammen ihre Locken auf. »Vielleicht sollte ich
das
machen – nach Berlin gehen –, scheiß auf den Studienplatz.«
    Bernhard hat wieder begonnen, Steine aufzusammeln und über das Wasser springen zu lassen. Man kann nur noch erahnen, wie oft sie aufsetzen. Die leuchtenden Punkte eines Fährschiffs ziehen durchs Dunkel und verschwinden hinter dem Ausläufer des Felsens. Und dann steht es plötzlich vor uns, so klar, dass keiner ein Wort darüber verlieren muss: Unsere Reise ist zu Ende. So sitzen wir und warten darauf, dass einer ausspricht, was wir alle bereits wissen.
    Zoe ist es, die schließlich das Wort ergreift. »Nächsten Sommer.«
    »Ja, klar«, schnauft Bernhard.
    »Ich meine es ernst«, beharrt Zoe. »Wir treffen uns wieder, hier, nächsten Sommer.«
    Nach kurzem Schweigen sagt Lilith: »Bin dabei.«
    Marc: »Auf jeden.«
    Bernhard: »Das klappt doch sowieso nicht, da gehe ich jede Wette ein.«
    |225| »Hängt einzig und allein von dir ab«, bemerkt Zoe. »Also: Bist du dabei oder nicht?«
    »Von mir aus.«
    »Bist du dabei oder nicht?«
    »Ja, bin dabei.«
    Nun richten sich die Blicke auf Jeanne, die entschuldigend den Kopf einzieht. »Ich weiß nicht. Ein Jahr … ist eine lange Zeit, nicht?«
    Zoe ist ganz von ihrer Mission in Anspruch genommen. »Bist du dabei oder nicht?«
    Jeanne zögert, doch eigentlich kennt sie ihre Antwort bereits: »Also gut … Oui. Ich komme. Nächste Sommer.«
    Ich bin der Letzte. »Mich braucht ihr nicht zu fragen«, sage ich, »bin sowieso hier.«
     
    Der Himmel hat sich zugezogen, die Wolken drängen dicht an dicht, kein Mond, keine Sterne. Wir blicken auf das Meer hinaus, das nur so weit zu sehen ist, wie die Wellen das Feuer reflektieren. Alles, was danach kommt, ist Geräusch und Weite. Bernhard sucht nach dem perfekten Stein, dem, der für immer auf dem Wasser springt und niemals untergeht. Nach Berlin zurückzufahren und in den Abgrund zu blicken, den der Tod seiner Mutter hinterlassen hat, macht ihm eine Scheißangst.
    »Wenn du willst«, ruft er vom Ufer, »kannst du erst mal bei mir wohnen. Hab so eine Art Gästezimmer. Steht sowieso leer …«
    Er zieht einen Stein aus dem Wasser, wäscht ihn sauber und wiegt ihn in der Hand. Ein kleiner Diskus, nahezu perfekt. Gut für 13 bis 15 Aufsetzer. Mindestens. Vielleicht springt er auch für immer, wer weiß. Das Meer hat sich bis an den Rand der Feuerstelle vorgearbeitet. Zehn Minuten noch, vielleicht eine

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