Nächsten Sommer
Viertelstunde, dann wird auch die letzte Flamme erloschen sein.
Lilith sieht von ihren Zehen auf. Der Schatten ihrer Nase lässt sie noch geschwollener aussehen, als sie es ohnehin ist. »Dir ist schon klar, dass ich tatsächlich auf Frauen stehe, oder?«, ruft sie gegen die Brandung an. »Ich bin eine Lesbe, Bernhard. Und daran wird sich auch nichts ändern.«
Bernhard betrachtet den Stein von allen Seiten. Besser wird es |226| nicht. Wenn es einer schafft, dann dieser. Doch statt ihn auf die Reise zu schicken, lässt er ihn in die Hosentasche gleiten. »Hast du ein Problem damit, dass ich hetero bin, oder was?«
»Wie kommst’n darauf?«
»Na dann … Angebot steht.«
Im Dunkeln tasten sich unsere Füße die Stufen hinauf. Die Reste der Glut sind zischend von einer Welle überspült worden. Stellenweise hat die Wolkendecke Risse bekommen. Manche Löcher glänzen wie Seen am Nachthimmel. Wir gehen paarweise: Vorne Jeanne und Marc, in der Mitte Zoe und ich, hinter uns Lilith und Bernhard.
»Kannst du wieder hören?«, fragt Jeanne.
»Rechts ja, links nein«, antwortet Marc.
Im Gehen greift sie nach seiner Hand, beugt sich zu ihm und flüstert ihm etwas ins Ohr. Marc hört nur ein gigantisches Fiepen, doch Jeannes Worte hängen in der Abendluft wie ein Mückenschwarm, und als Zoe und ich sie durchschreiten, hören wir sie flüstern: »
Heute
Nacht hab ich keinen Freund.«
Wir erreichen die letzten Stufen und suchen uns den Weg durch den Pinienhain. Um uns herum rauscht und knackt es. Silbriges Licht sickert durch die Baumkronen. Als ich aufsehe, zieht die Mondsichel wie eine leuchtende Haifischflosse durch die Wolken. Zoe legt mir ihren Arm um die Taille.
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|227| Fünfter Tag
You better hope you’re not alone
(Jack Johnson)
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Ich betrachte ihr schlafendes Profil, die schmale Nase, das zarte Kinn, die weichen Lippen. Diesmal kann ich dem Drang, ihr die Haare aus der Stirn zu streichen, nicht widerstehen. Wir liegen auf dem Sofa. Mein Gesicht ist ihrem so nah, dass ich sehe, wie mein Atem ihre Haut streift.
Das Schlafzimmer haben wir Jeanne und Marc überlassen, und den Geräuschen nach zu urteilen, haben sie die ganze Nacht lang Gebrauch davon gemacht. Erst gegen halb sechs sind sie gemeinsam in Ohnmacht gesunken. Lilith mit ihrer geschwollenen Nase und Bernhard mit seiner geschwollenen Hand haben sich, jeder mit einer Decke und einer Flasche Wein bestückt, die Liegen, die Terrasse und den Nachthimmel geteilt, ihre Wunden geleckt und sich betrunken. So sind sie eingeschlafen: Die Gesichter einander zugewandt, zwei leere Flaschen zwischen sich. Vielleicht war es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
»Na«, fragt Zoe, ohne ihre Augen zu öffnen, »was geht in deinem hübschen Köpfchen vor?«
Ich halte inne, meine Finger in ihren Haaren.
»Hab ich gesagt, dass du aufhören sollst?«, fragt sie. »Also?«
Also … Was geht in meinem Kopf vor: »Ich hab immer gedacht, das Schicksal hätte für mich nur die Krümel vorgesehen, die vom Tisch fallen.«
»Und?«
»Stimmt nicht.«
»Du meinst, du glaubst nicht mehr an Schicksal?«
Die Luft, die durch die Balkontür hereinweht, legt sich warm auf unsere Haut. Wieder so ein strahlender Tag. Einer, an dem alles nach Aufbruch duftet. Und wieder fühlt es sich an wie ein verkehrtes Sprichwort: jeder Anfang ein neues Ende.
»Keine Ahnung, ob es Schicksal gibt«, antworte ich. »Aber wenn |230| ja, dann habe ich großes Glück gehabt: Ich hatte einen Onkel, der mich geliebt hat, ich habe Marc … Und in meinem Arm liegt die schönste Fischin im großen, weiten Ozean.«
Zoe hält die Augen geschlossen. In ihr Lächeln schleicht sich Wehmut. Doch ein Tropfen Wehmut ist ja allem Schönen beigemischt. Auch für sie ist die Reise zu Ende. Nur ich werde bleiben. Das ist mir letzte Nacht klargeworden. Außer mir haben alle etwas, das auf sie wartet: eine Beerdigung, ein neues Leben, ein Job, der nächste Auftritt. Auf mich warten eine Katze, die sich seit fünf Tagen von Achmed füttern lässt, sowie ein autistischer Junge, von dem ich nicht einmal weiß, ob er weiß, wer ich bin. Ich möchte Zoe sagen, dass es okay ist, dass Glück nie von Dauer ist, doch dass jetzt und hier alles an seinem Platz und genau so ist, wie es sein soll. Und mehr kann man vom Leben nicht erwarten.
»Danke«, sagt Zoe und schmiegt ihren Kopf an meine Brust.
Nachdem ich Bernhard geholfen habe, seine Anziehsachen zu rechtwinkligen Päckchen zu falten
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