Naechte am Rande der inneren Stadt
Hausverwaltung schickt einen Mann mit Heizgeräten
vorbei. Robert sagt: Du kannst bei mir wohnen. – Nein, ich will hier nicht weg, sage ich.
Jetzt regnet es auch noch im Klo! Wir mussten wieder das Wasser abstellen. Im Flur kommen inzwischen ebenfalls die alten Tapeten
runter. Ich kriege bestimmt eine Blasenentzündung; Heizgeräte und Nässe machen ein klammes Klima.
Ich fing in der Küche an, abgerissene Tapetenstücke aufzuklauben und wegzubringen. Es sieht irre aus; halb gelb, halb rosa,
es sind mindestens sieben Schichten übereinander. Sie rollen sich ganz langsam ab und hängen in den Raum hinein wie riesige
Zungen. Ich sollte Heumann anrufen, sich das mal anzusehen! Wie eine Installation. Ich mache Fotos mit meiner Polaroid.
Zwischendurch setze ich mich ins große Zimmer zum Aufwärmen und Lesen und den Schneeflocken beim Fallen Zusehen. Ich tue so,
als wäre es nicht real, was da in meiner |219| Wohnung passiert. Plötzlich ein Krachen in der Küche; ich renne hin: Ein Stück Tapetenschicht hat sich gelöst und ist auf
den Boden geknallt.
Ich liebe deine Augen, meine Freundin, ihr helles Flammenspiel, wenn du sie unerwartet hebst...
Robert liest mir ein Gedicht von Tarkowskij vor, mein Körper ist gerührt und wird nass wie die Wände in der Küche.
Robert macht mich zu einem schönen, einfachen Lied, mein Gesicht wird zu einem Kindergesicht voll selbstvergessener Fröhlichkeit.
Er liebt die Augen, den Mund, die Grübchen. Zart streichen seine Finger mir Creme auf die wintertrockenen Lippen. Ich werde
still und stark wie das Mädchen, das mit seinen Blicken Gläser bewegt, und ich singe, wenn er mich ansieht, und vergesse alle
Worte. Ich seufze tief und ruhig und höre ihn tief und ruhig seufzen.
In der Liebe sind wir uns so nah wie in unseren Gesprächen, in denen unsere Augen sich an den Händen halten. Seine Wimpern
sind dunkel und lang und gebogen, halb gesenkt, ich sehe, wie sich die Augen nach oben drehen, und ich werde sanft, als hätt
ich immer nur diesen einen hier geliebt.
Momente lang werde ich geschont von der Erinnerung, der Frage: Warum konnte ich die andern nicht so satt und heiter machen
wie diesen hier?
Kein Vergleichen beleidigt die Liebe.
Nichts zerrt daran, alles ist erfüllte Zeit.
Nur manchmal, wenn ich allein bin, find ich Trauer am Wegesrand, über die, die ich liebte.
Verlier deine Seele in mir, sagt er, dann werden wir glücklich.
Smog Alarmstufe 1. Natürlich wird weitergeheizt, Berlin roch nie schlimmer nach Kohle, die geteilte Stadt ist eins unter der Dunstglocke, und
wir atmen alle schwer. Die Kohle hängt in den Straßen, die Inversionslage verstopft die Öfen, es qualmt |220| in unsere Zimmer und wir husten. Ich leide an Schuldgefühlen, ach, wär ich besser erzogen. Ich habe Angst, Illusionen ausgesetzt
zu sein und jedesmal zu glauben, es ist Liebe, und dann frage ich mich, ob ich nicht alle betrüge, einen mit dem anderen,
und am Ende mich selbst.
Seit ich mit Robert zusammen bin, komme ich überhaupt nicht mehr in irgendwelche Ateliers oder Ausstellungen. Er wartet auf
mich, er ruft an, er kommt vorbei, er hat meinen Schlüssel, eigentlich als Ersatz, aber er benutzt ihn.
Gestern liebte ich Robert wieder mit dem Mund und wurde zu heftig, weil ich ganz aufgerissen und nah und verlangend war und
ihn am liebsten in mir drin gefühlt hätte. Ich glaube, ich trat mit den Füßen und packte ihn, da stieß er meinen Kopf fort
und brachte sich in unglaublicher Ekstase selbst zu Ende. Ich war erschüttert, wegen dieser Offenheit – zugleich konnte ich
es nicht verkraften, sank leer und wund in mir zusammen, rollte mich ein in der Ecke des Betts; er lag für sich, völlig entspannt.
Du, brachte ich irgendwann hervor, das war schrecklich. Das war, als wolltest du mir sagen: Lass mich, meine Hand kann es
besser, allein geht es eben doch besser, ich brauch dich nicht, ich bin unabhängig.
Was? fragte er. Du warst doch diejenige, die brutal war!
Bitte?
Ich hörte wohl nicht richtig.
Verflucht, sagte ich, dann bring es mir bei!
Wir lagen eine Weile wortlos da, eine grässliche Spannung breitete sich aus. Ich fing an zu frieren, konnte mich aber nicht
einmal rühren, um die Decke über mich zu ziehen. Schließlich fing er an zu sprechen. Er hatte als Gewalttätigkeit empfunden,
was nichts als meine Ungeschicklichkeit in der Erregung war. Er nannte mich
gewalttätig
! Sprach vom Wehtun. Ich hingegen
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