Nächte des Schreckens
redest du denn da?«
»Willst du etwa behaupten, daß du es wagen würdest...«
»Kannst du dir vielleicht vorstellen, wie ich als Bürgermeister zur Polizei gehe und sage: >Ich habe gerade jemanden überfahren!«
»Ich kann es mir nicht nur vorstellen, sondern du wirst auch genau das tun!«
»Du mußt den Verstand verloren haben! Der Mann ist tot. Man kann nichts mehr für ihn tun. Wenn ich mich stelle, bin ich entehrt. Dann muß ich von meinem Amt zurücktreten. Und die Gäste werden mein Restaurant meiden. Das bedeutet den Ruin. Willst du das wirklich?«
»Ich will, daß du deine Pflicht tust.«
»Das reicht jetzt, Virginie. Ich weiß, was ich zu tun habe.« Mit einer heftigen Bewegung dreht sich Virginie Clément zu ihrem Vater um.
»Nein, das reicht eben nicht. Wenn du nicht zur Polizei gehst, dann tue ich es eben.«
»Du würdest mich anzeigen?«
»Ich würde bezeugen, was ich gesehen habe, nämlich einen Unfall mit tödlichem Ausgang und anschließender Fahrerflucht.«
»Virginie, ich bitte dich! Hast du denn gar kein Gefühl mehr für mich?«
»Sprich mir nicht von Gefühlen! Ich werde nicht imstande sein, einen Feigling und einen Egoisten zu lieben!«
Erneut herrscht Schweigen zwischen ihnen, während der Wagen in den Ort hineinfährt. Virginie Clément ficht unterdessen einen schrecklichen inneren Kampf aus: Soll sie tun, was sie für ihre Pflicht hält, oder soll sie aus Liebe zu ihrem Vater schweigen?
Pierre Clément ist sehr bleich, als er am anderen Morgen das Büro von Oberwachtmeister Rollin betritt, dem die Gendarmerie von Longpre untersteht.
»Das ist eine üble Geschichte, Herr Bürgermeister.«
»Ja. Eine üble Geschichte.«
»Wir haben mit unseren Ermittlungen bereits begonnen. Der Schweinehund, der das getan hat, wird uns nicht entkommen, da können Sie sicher sein! Ich nehme an, daß Sie ihrerseits ebenfalls Maßnahmen ergreifen werden.«
»Ja, gewiß.«
»Sie könnten Freiwillige finden, die bei der Suche behilflich sind.«
»Ja, genau...«
»Wir müssen diesen Mistkerl unbedingt fassen, Herr Bürgermeister. Stellen sie sich vor: Die Witwe steht vollkommen mittellos da! Wie konnte der Täter nur so rücksichtslos sein?«
»Er hat vielleicht den Kopf verloren...«
»Na, also wissen Sie! Für diese Leute zählt doch nur ihre eigene Person. Die anderen können ruhig draufgehen!«
In diesem Moment wird diskret an die Tür geklopft, und gleich darauf erscheint ein Untergebener des Oberwachtmeisters.
»Herr Bürgermeister, Ihr Fräulein Tochter ist hier.«
Pierre Clément zuckt zusammen.
»Was will sie?«
»Das weiß ich nicht, Herr Bürgermeister.«
Der Beamte kommt nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn Virginie stürmt in den Raum hinein. Dann bleibt sie reglos stehen, wobei sie abwechselnd den Oberwachtmeister Rollin und ihren Vater ansieht.
Rollin begrüßt sie ehrerbietig.
»Guten Tag, Mademoiselle. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ja.«
Virginie scheint etwas sagen zu wollen, doch plötzlich bleibt sie mit offenem Mund und wie versteinert dort stehen.
Der Polizeibeamte ist etwas verwirrt und meint: »Nun, ich... ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Ich habe meinem Vater etwas zu sagen.«
Rollin macht eine kurze Verbeugung, und Vater und Tochter verlassen den Raum.
Sobald sie ins Freie gelangt sind, ergreift das junge Mädchen das Wort: »Du hattest recht. Ich bin unfähig, dich zu denunzieren. Ich habe es versucht, aber ich kann nicht. Es geht über meine Kräfte.«
»Danke, Virginie.«
»Nein, du sollst mir nicht danken. Ich will deinen Dank nicht. Ich reise auf der Stelle ab.«
»Virginie!«
»Adieu, Papa. Ich lasse dich hier mit deinen schönen Kriegsauszeichnungen, deinem Luxusrestaurant und dem Blut an deinen Händen zurück!«
Und Virginie entfernt sich im Laufschritt, während ihr Vater mit gesenkten Schultern vor der Gendarmerie stehenbleibt.
Pierre Clément überlegt nicht lange. Wie ein Automat kehrt er um und betritt erneut das Büro von Oberwachtmeister Rollin. Dieser springt überrascht auf, als er die aufgelöste Miene des Bürgermeisters sieht.
»Sie können Ihre Ermittlungen einstellen, Rollin.«
»Wie bitte?«
»Sie finden das Tatfahrzeug in der Garage meines Restaurants.«
»Sind... sind Sie sicher?«
»So sicher, wie man nur sein kann, denn der Wagen gehört mir, und der Fahrer war ich.«
»Herr Bürgermeister!«
»Nennen Sie mich nicht mehr >Herr Bürgermeister<. Ich stelle mit sofortiger Wirkung mein Amt zur Verfügung.
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