Nächte des Schreckens
Hörer aufzulegen, erklärt die alte Dame: »Hören Sie, ich habe Sie angerufen, weil diese Stimme... diese Stimme spricht dänisch. Ich verstehe Dänisch, und ich bin mir meiner Sache ganz sicher.« Der Beamte schweigt jetzt. Dänisch... das sagt ihm irgend etwas. Ach ja, es geht um eine Vermißtenmeldung, und da ist auch schon der Zettel: Ein gewisser Olaf Kirksen ist verschwunden, und zwar nach dem Verlassen der »Chrystal-Bar« in der Wilhelmstraße...
»Wir kommen sofort, Frau Lindmaier!« ruft der Beamte aufgeregt ins Telefon. »Was spricht die Stimme denn?« Die alte Dame zögert ein wenig, als habe sie Angst, etwas Dummes zu sagen: »Wenn ich richtig verstanden habe, dann schreit sie: >Zu Hilfe! Zu Hilfe!<«
Wenige Minuten später trifft die Polizei, gefolgt von einem Feuerwehrauto, in der Wilhelmstraße 46 ein. Die Feuerwehrleute klettern mühelos aufs Dach, da das Gebäude mit einem Gerüst versehen ist.
Als die Männer oberhalb des Schornsteins von Frau Lindmaier angelangt sind, beugen sie sich hinunter, und als sie in den Schornstein hineinleuchten, erkennen sie ein Paar Schuhe. Kurz darauf ziehen sie eine undefinierbare schwarze Form heraus: Es ist der unglückselige Olaf Kirksen, der wie durch ein Wunder noch lebt.
Er befindet sich wirklich in einem jämmerlichen Zustand: Sein ganzer Körper ist mit Ruß bedeckt, er hat keine Haare mehr — sie sind alle verbrannt — und die untere Schädelhälfte ist durch eine riesige Quetschwunde verunstaltet. Feuerwehrleute und Polizisten erkunden mit Suchscheinwerfern den Rauchabzug, in den man den Unglücklichen hineingeworfen hatte. Ungefähr zwei Meter unterhalb der Schornsteinöffnung macht der Abzugskanal einen Knick, und genau an dieser Stelle war er eingeklemmt. Er steckte in einem Zylinder von wenig mehr als fünfzig Zentimeter Durchmesser, Kopf und Rückenpartie in horizontaler Stellung, die Füße in der Luft, ohne auch nur die geringste Bewegung machen zu können...
Vierundzwanzig Stunden lang war er darin gefangen gewesen, direkt oberhalb des Kaminabzugs von Frau Lindmaier, die ihren Ofen zweimal in Betrieb genommen hatte.
Olaf Kirksen wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er lange zwischen Leben und Tod schwebt, doch er kommt durch. Die Polizei hat ihre Ermittlungen weiter fortgesetzt und schließlich Erfolg damit gehabt. Die Schuldigen waren die Brüder Lutz, zwei der »Künstler« aus der »Chrystal-Bar«, die die berühmten lebenden Bilder aufführten. Schon seit einiger Zeit hatten sie sich darauf verlegt, nach der Vorstellung Gäste mit besonders gut gefüllter Brieftasche zu überfallen. Den entsprechenden Tip hatten sie von den Animiermädchen erhalten.
Vor den Polizeibeamten legten sie folgendes Geständnis ab: »Wir haben den Dänen ungefähr zweihundert Meter von der Bar entfernt überfallen, aber statt sich zu ergeben, hat er sich gewehrt wie ein Verrückter. Wir sahen, daß wir es mit einem sehr kräftigen Burschen zu tun hatten, und deshalb haben wir ihm mit dem Lauf der Waffe eins über den Kopf gegeben. Er stürzte auf den Gehsteig nieder. Er blutete stark, und er rührte sich auch nicht mehr. Wir dachten, er sei tot. Wir wollten ihn irgendwie verschwinden lassen, und da sahen wir das Gerüst an dem Haus gegenüber. Wir haben ihn aufs Dach befördert und in den nächstbesten Schornsteinschacht geworfen. Wenn wir natürlich gewußt hätten, daß er noch lebte...«
Die beiden Männer, die noch viele andere Überfälle auf dem Gewissen hatten, wurden zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Olaf Kirksen kehrte nach Dänemark zurück, doch wird er diese Reise nach Deutschland bestimmt niemals vergessen haben. Die Prospekte hatten ihm eine perfekt organisierte, vierzehntägige Rundreise versprechen, mit allen möglichen Ausflügen, Besichtigungen und sonstigen Attraktionen. Für ihn war jedoch etwas inbegriffen, was nicht in dem Programm gestanden hatte: eine Nacht in der Hölle.
D IE K URVE
15. Juli 1973, kurz vor Mitternacht. Der große Citroën von Pierre Clément rollt geschmeidig über die Landstraße in Richtung Longpré, einem Ort im Departement Saône-et-Loire. Es kommt selten vor, daß Pierre Clément zu so später Stunde noch mit dem Auto unterwegs ist. Zum einen fährt er nicht gern in der Nacht, zum andern herrscht gerade um diese Zeit Hochbetrieb in seinem Restaurant. Doch in diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig, denn er mußte seine Tochter Virginie am Flughafen von Lyon abholen. Virginie
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