Nächte des Schreckens
erwidert: »Das Drama hat sich gleich zu Beginn des Abends zugetragen, als der erste Gast seinen Hund losließ. Ihr Bruder bekam Angst und flüchtete ins Dunkel hinein. Dabei stolperte er über eine am Boden liegende Wurzel. Er stürzte hin und brach sich das Rückgrat. Der Hund fiel über ihn her, doch er hat ihn nicht getötet. Er war bereits tot.«
Heinz Bruner ist leichenblaß geworden.
»Das ist nichts anderes als Mord gewesen!«
»Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, haben Sie recht. Dies ist einer der widerlichsten Fälle, die ich während meiner ganzen Laufbahn erlebt habe. Doch juristisch gesehen kann man nur von fahrlässiger Tötung sprechen. Man wird sagen, immerhin habe Ihr Bruder das Angebot akzeptiert, und dann sei die Sache eben böse für ihn ausgegangen.«
»Und der Graf von Melnig wird sich damit aus der Affäre ziehen können?«
»Was er zu fürchten hat, ist nicht nur das Gefängnis, sondern vor allem der Skandal. Der Mann ist erledigt.«
Heinz Bruner erhebt sich schwerfällig und meint seufzend: »Mag sein... Aber es gibt Momente, in denen man wirklich Lust verspürt, Selbstjustiz zu üben!«
S PÄTE R ACHE
E
s ist Anfang 1942. Das französische Baskenland stellt das äußerste südliche Ende der von den Deutschen besetzten Zone dar, die sich entlang der Küste bis hin zur spanischen Grenze erstreckt. Es ist eine sehr unsichere Gegend, denn viele Verfolgte, wie etwa jüdische Flüchtlinge oder Mitglieder der Résistance, versuchen von hier aus, nach Spanien zu gelangen, und die deutsche Polizei ist besonders wachsam.
José Irracabal wohnt in Béhobie an der Straße nach Hendaye, ganz in der Nähe der Grenze. José Irracabal ist Witwer und lebt allein mit seinen beiden Söhnen, dem siebenjährigen Julien und dem fünfjährigen Charles, auf einem großen Bauernhof. Nach außen hin ist er nichts als ein Bauer, doch wie so viele Männer in der Gegend betätigt er sich in Wirklichkeit als Schmuggler.
Die Jahre der Besatzung scheinen ihm nicht viel auszumachen. Er kommt in den kargen Zeiten offenbar ganz gut zurecht. Man weiß natürlich, daß er auf dem schwarzen Markt Geschäfte macht. Und wenn es stimmt, was die Nachbarn tuscheln, pflegt er auch recht gute Beziehungen zu den deutschen Behörden. José Irracabal hat es jedenfalls mit nationalen Gefühlen und Prinzipien noch nie sehr genau genommen.
Trotz seiner beiden Kinder scheint er jedoch unter seinem einsamen Dasein zu leiden. Dies wird der Grund sein, weshalb er sich Anfang des Jahres 1942 bereit erklärt, auf seinem Bauernhof zwei Mieter aufzunehmen, ein junges Ehepaar namens Michel und Antoinette Garmendia. Der Mann ist fünfundzwanzig, seine Frau erst knapp über zwanzig.
Man wird sich rasch einig: Das Ehepaar soll die erste Etage bewohnen, braucht keine Miete zu bezahlen, doch wird Antoinette Garmendia sich dafür um Julien und Charles kümmern. Dieses Übereinkommen stellt alle Beteiligten zufrieden, zumal die beiden Männer in gewisser Weise Kollegen sind. Michel Garmendia übt zwar alle möglichen Beschäftigungen aus, doch gilt auch sein Hauptaugenmerk der Schmuggelei.
4. März 1942. An diesem Tag muß Irracabal nach Urugne fahren, um Vorräte einzukaufen. Er bittet Antoinette, den Kindern etwas zu essen zu machen, da er erst spät am Abend wieder dasein wird.
In der Tat ist er um sieben Uhr abends noch nicht zurück, als sich Michel Garmendia von seiner Frau verabschiedet und zur Arbeit fährt. Er hat inzwischen nämlich eine Anstellung als Nachtwächter in einer Fabrik in Hendaye gefunden und kann so seine Einkünfte als Schmuggler eher rechtfertigen.
Um halb neun kommt José Irracabal nach Hause. Antoinette serviert ihm sein Abendessen und will dann in ihr Zimmer gehen. Da sie trotz ihrer zwanzig Jahre noch das Gemüt eines Kindes hat und sich im Dunkeln fürchtet, bittet sie José, den kleinen Julien bei sich behalten zu dürfen, um nicht allein schlafen zu müssen. Irracabal hat nichts dagegen, und so steigen Antoinette und der Junge die Treppe hinauf, doch wenig später kommt sie ganz verängstigt wieder herunter.
»Es ist vollkommen dunkel im Zimmer«, erklärt sie. »Man sieht überhaupt nichts. Das Licht funktioniert nicht mehr.« José erwidert gelassen: »Wir bringen das morgen in Ordnung. Zum Schlafen braucht man kein Licht.«
Widerwillig erklimmt die junge Frau erneut die Stufen. »Daß das Licht nicht geht, ist kein gutes Zeichen«, sagt sie zu sich selbst. »Ich habe Angst!«
Am 5. März
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