Nächte des Schreckens
Januar 1900. Können Sie sich vorstellen, daß wir ungeheure Schwierigkeiten hatten, Wächter dafür zu finden? Und das wegen einer Geschichte, die mehr als zwei Jahrhunderte zurückliegt! Es ist eine haarsträubende Gespenstergeschichte, aber man darf nicht vergessen, daß wir hier in Schottland sind...«
Kommandant Murdoch lauscht schweigend. Er ist Amerikaner, und wenn die Schotten von ihren Gespenstern erzählen, kann man nichts anderes tun, als zuzuhören.
»Es geschah um 1680 oder 1690. In einem Schloß, das nicht weit von hier entfernt liegt, gab es einen Baron namens Mac Flagann. Er war verwitwet und sehr reich, aber er war auch...« Kapitän Mac Stevens wirkt etwas verlegen.
»Er war auch sehr geizig«, fährt er fort. »Eines Tages kam sein Neffe zu ihm und bat ihn um Geld, doch der Alte weigerte sich. Daraufhin wollte der Neffe zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Amerika segeln, um dort sein Glück zu machen. Ihr Schiff kam jedoch nicht weit. Es sank auf offener See vor Eilean Mor. Der alte Mac Flagann war ein nüchtern denkender Mann, und dieses Ereignis hätte ihn sicher nicht um den Schlaf gebracht, aber die Geister der Ertrunkenen suchten sein Schloß heim. Mac Flagann hielt das nicht lange aus. Er verbrachte den Rest seiner Tage auf Eilean Mor, um für seine Schuld zu büßen. Er ernährte sich von Fischen und Krabben und trank nur Regenwasser. Mit seinen eigenen Händen baute er auf dem Felsen eine Art Kapelle. Nach seinem Tod schworen zahlreiche Seeleute, bei Sturm hätten sie seinen Geist gesehen, der sie angefleht habe, für den Frieden seiner Seele zu beten.«
Kommandant Murdoch streicht über seinen Bart.
»Ich verstehe... Hätte man den Leuchtturm nicht anderswo errichten können?«
»Nein. An dieser Stelle ist er für die Seefahrt am günstigsten.«
»Und was wollen Sie jetzt unternehmen?«
»Abwarten. Bei dieser aufgewühlten See können wir gar nichts tun.«
Wenn der Sturm über die schottische Küste hinwegfegt, kann das oft lange dauern. Kapitän Mac Stevens ist daher ebenso überrascht wie erleichtert, daß sich der Sturm schon nach vier Tagen, am 20. Dezember, ganz plötzlich legt. Sofort ergreift er die nötigen Maßnahmen, um den Männern auf Eilean Mor zu Hilfe kommen zu können.
Die »Hesperus«, das Verpflegungsschiff des Leuchtturms, ist so konstruiert, daß sie auch auf rauher See navigieren kann, was jedoch nicht mehr erforderlich ist, da das Meer nun glatt und vollkommen ruhig ist. Als das Schiff den Hafen von Greenoch verläßt, befindet sich Kommandant Murdoch ebenfalls an Bord. Er muß erst nach Neujahr wieder in See stechen, und da er jetzt frei über seine Zeit verfügen kann, hatte er Kapitän Mac Stevens gebeten, an der Rettungsaktion teilnehmen zu dürfen.
Um zu den Hebriden zu gelangen, ist man fast einen ganzen Tag lang unterwegs. Am späten Nachmittag taucht endlich das Eiland von Eilean Mor auf. Vom Bug der »Hesperus« aus betrachtet Kommandant Murdoch die Felsformation im Schatten des gewaltigen Leuchtturms.
Der Ort wirkt sehr verlassen und einsam. Es ist keine andere Insel in Sicht, und die Küste ist sehr weit entfernt. Sobald Nebel aufzieht, wird die Küste nicht mehr zu erkennen sein, und die Wächter werden sich inmitten der sie umgebenden Wasserfluten vollkommen verloren fühlen...
Als Kapitän Mac Stevens sein Fernglas hervorzieht, fragt Murdoch: »Können Sie etwas sehen, Kapitän?«
»Nein. Da rührt sich nicht das geringste.«
Die »Hesperus« läßt drei Sirenentöne erklingen. Ob dieses durchdringende Geräusch wohl irgendeine Reaktion hervorrufen wird? Kapitän Mac Stevens blickt weiterhin durch sein Fernglas, doch schließlich läßt er es entmutigt sinken.
»Nichts zu machen! Keiner von den dreien ist zu sehen.«
Auf dem Eiland gibt es eine Art Anlegestelle, wo man das Boot verankern kann. Dann folgt Kommandant Murdoch dem Kapitän und seinen Männern. Ob er will oder nicht, er ist tief beeindruckt von diesem Ort, der keineswegs einladend aussieht. Das Wetter ist zwar schön, doch herrscht eine beißende Kälte, und der Schnee, der in den letzten Tagen gefallen war, ist nicht geschmolzen. Diese Schneeschicht schluckt die Geräusche, doch selbst die Stille hat hier noch etwas Unwirkliches.
Der Kommandant wirft einen Blick nach rechts: Direkt neben der Anlegestelle befindet sich die berühmte Kapelle! Das Wort »Kapelle« ist allerdings übertrieben, denn es handelt sich lediglich um eine Grotte, auf der sich ein in
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