Nächte im Zirkus
sie mich in der Ellenbeuge. Wir nannten einander ›Schwester‹. Sie war gerade acht Jahre alt; ich war neun. Mein Schiffchen war in einem glücklichen Hafen gelandet.
Die Zeit verging. Wir Mädchen träumten davon, unser Haar aufzustecken, unsere Rocksäume herunterzulassen... von all den reizvollen Geheimnissen des Erwachsenwerdens, die vor uns lagen... obwohl ich für mein Teil wußte, daß ich nie in irgendeinem wörtlichen Sinne wachsen würde, was mich zuweilen traurig stimmte. An einem Weihnachtsabend sollte es in das traditionelle Pantomimentheater gehen. Irgendein sechster Sinn warnte mich vielleicht vor der Gefahr, die mir bevorstand. Ich sagte Mama, ich hätte nun die kindischen Dinge abgetan und würde lieber an diesem Abend daheimbleiben und mein Buch lesen. Aber meine Schwester war mir etwas hinterher, war noch ein wenig kindlicher und sehnte sich nach den hellen Lichtern und dem bunten Flitter - und sie sagte, wenn ich nicht mit der Familie ins Theater ginge, wäre der ganze Abend verdorben. Ich gab ihrer zärtlichen Erpressung nach. Wie sich herausstellte, wurde Schneewittchen gegeben.
Ich wurde in unserer Loge erst zu Feuer, dann zu Eis, als die Szenenfolge sich vor mir entfaltete, denn so sehr ich auch meine Familie liebte: es gab stets den unabänderlichen Unterschied zwischen uns. Es war nicht so sehr die Unbeholfenheit ihrer Gliedmaßen, ihre plumpen Bewegungen, die mich bedrückten, nicht einmal der Donner ihrer Stimmen, war ich doch mein ganzes Leben nicht ein einziges Mal ohne Kopfschmerzen zu Bett gegangen. Nein. All dies hatte ich von Geburt an gekannt, und ich hatte mich an die monströse Häßlichkeit der Menschheit gewöhnt. Ja, mein Leben in dem freundlichen Haus hätte mich beinahe diesen Tieren - einigen davon zumindest - ihr viehisches Wesen verzeihen lassen können. Doch als ich meine Naturverwandten auf der Bühne sah, selbst als sie hüpften und sprangen und sich als komische Zwerge gebärdeten, hatte ich eine Art Vision einer Welt en miniature, eines kleinen, vollkommenen, himmlischen Ortes, wie er sich im Auge eines weisen Vogels winzig spiegeln könnte. Und es schien mir, daß dieser Ort meine Heimat sei und diese kleinen Männer seine Bewohner, die mich nicht als ›kleine Frau‹ lieben würden, sondern als - Frau.
Und dann war es vielleicht... vielleicht floß wirklich das Blut meiner Mutter in diesen winzigen Adern! Vielleicht... vielleicht genügte mir bloße ruhige Zufriedenheit nicht. Vielleicht war ich immer schon ein böses Mädchen, und nun zeigte sich meine Schlechtigkeit am Ende in meinen Handlungen.
Es war mir ein Leichtes, mich im Gedränge nach dem Ende der Vorstellung von der Familie zu trennen; leicht, den Bühneneingang zu finden und am Pförtner vorbeizulaufen, als der gerade einen Blumenstrauß für Schneewittchen abzuliefern hatte. Bald fand ich die Tür, auf welche jemand boshaft-scherzhaft sieben kleine Sterne geklebt hatte. Ich klopfte. Drinnen saß ein überaus gutaussehender junger Mann auf einem Safe, der gerade die richtige Größe für uns beide hatte, und war damit beschäftigt, ein kleines Paar Hosen zu flicken - mit einer, wie es deinen Augen erschienen wäre, Fevvers, unsichtbaren Nadel und einem unsichtbaren Faden.
›Von welchem dreikäsehohen Planeten kommst du denn daher?‹ rief er, als er mich sah.‹
Dann bedeckte das Wunder ihr Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich.
›Ich will dir die traurigen Einzelheiten meines Niedergangs ersparen, Fevvers‹, sagte sie, als sie sich wieder in der Gewalt hatte. ›Es mag genügen, daß ich mit ihnen sieben lange Monate reiste, vom einen an den anderen weitergereicht, denn sie waren Brüder und teilten alles. Ich fürchte, gut haben sie mich nicht behandelt, denn sie waren zwar klein, aber sie waren Männer. Wie sie mich ohne Geld in Berlin zurückließen und wie ich unter die fürchterliche Obhut von Madame Schreck geraten bin, das sind Geschehnisse, die ich mir jede Nacht selbst erzähle, wenn ich die Augen schließe. Immer wieder durchlaufe ich eine Ewigkeit entsetzlicher Erinnerungen, bis es Zeit ist, wieder aufzustehen und mich davon zu überzeugen, daß jene, die kommen, an meiner kleinen Person ihre phantastische Lust zu kühlen, tiefer gesunken sind, als ich je sinken könnte.‹«
Fevvers seufzte.
»Sie sehen also, wie dieses liebliche Geschöpf wahrhaftig glaubte, so weit sich von ihrer Würde entfernt zu haben, daß sie nie wieder aus dem Abgrund emporsteigen könnte; und
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