Naechtliche Versuchung - Roman
Kyrian wusste, dass seine Mühe sinnlos war, kämpfte er wieder gegen das Netz. Und da stürmten Erinnerungen auf ihn ein.
»Wie fühlst du dich, General?«, drang Valerius’ höhnische Stimme aus der Vergangenheit heran. »Völlig hilflos, meiner Gewalt ausgeliefert?« In Kyrians Fantasie erschien das bösartige Lächeln des Römers, und er fühlte erneut die grausamen Folterqualen. »O ja, ich genieße es, dich leiden zu sehen, zu hören, wie du um Gnade winselst.«
Über Kyrians Augen senkten sich schwarze Schatten, während er jene Ereignisse noch einmal erlebte. Gepeinigt rang er nach Luft … O nein, er würde sich nie mehr fesseln lassen. Wie ein Besessener bäumte er sich unter dem Netz auf.
Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit betrat Nick das Haus, dicht gefolgt von Amanda und Talon.
»Rosa?«, schrie Nick und rannte durch die Küche, das Wohnzimmer, zur Treppe. »Kyrian?«
Keine Antwort. In Amandas Ohren gellte unheimliche Stille. Sie stürmten die Treppe hinauf, zu Kyrians Schlafzimmer, und Nick riss die Tür so vehement auf, dass die Bettvorhänge im Luftzug flatterten.
Der Raum war leer.
Zögernd blieb Amanda auf der Schwelle stehen und sah
sich um. Nichts Ungewöhnliches. Alles in Ordnung. Bis auf die zerwühlten Laken.
Und doch … Sie spürte eine Gefahr. Irgendetwas in ihrem Innern weckte die schlummernden Kräfte, die sie mit Kyrian verbanden. Sofort spürte sie seine Sorge, seinen Zorn.
»Verdammt!« Talon lief zum Bett, hielt ein silbrig schimmerndes Gewebe hoch und zerknüllte es in seiner bebenden Faust. »Unglaublich!«
»Was ist das?«, fragte Amanda.
»Ein dyktion, eines von Artemis’ Netzen.«
Was er damit meinte, wusste sie nicht. Jedenfalls nichts Gutes, das merkte sie seiner Miene an. Und es hätte auch nicht auf dem Bett liegen dürfen, während Kyrian verschwunden war. Mühsam bezwang sie eine aufsteigende Panik. »Warum ist es hier?«
»Keine Ahnung. Aber falls Kyrian darunter lag, nehme ich an, er wurde von der Person entführt, die das Netz über ihn geworfen hatte.« Talon bückte sich und hob ein Hackbeil vom Boden auf.
Amandas Angst wuchs. Gegen ihren Willen konzentrierten sich ihre Kräfte und suchten Kyrian. Sie hasste es, wenn sie von ihren übersinnlichen Fähigkeiten kontrolliert wurde.
Andererseits musste sie herausfinden, was mit Kyrian geschah. Die Augen geschlossen, sah sie ihn in einer sterilen Umgebung. Er sorgte sich. Aber er schien nicht in Gefahr zu schweben. »Versuchen Sie ihn auf seinem Handy anzurufen«, bat sie Talon.
Ungeduldig verzog er das Gesicht. »Das habe ich schon zehn Mal probiert.«
»Dann versuchen Sie’s zum elften Mal.«
Wie sein Blick verriet, missfiel ihm ihr Befehlston. Nur widerstrebend stimmte er zu. »Okay. Was soll’s, zum Teufel. Auch der Unsinn hat seinen Sinn auf dieser Welt.« Lässig zog er ein Handy aus seiner Jackentasche und wählte Kyrians Nummer.
»Hier sehe ich keine Kampfspuren.« Inzwischen hatte Nick das Zimmer durchsucht.
»Kyrian!«, schrie Talon und starrte Amanda mit schmalen Augen an. »Wo zum Geier steckst du?«
Aufgeregt trat sie näher zu ihm. Ihre Vision hatte sie nicht getrogen.
»Bleib, wo du bist, bis wir da sind!«, stieß Talon hervor, drückte die Aus-Taste und wandte sich zu Nick. »Er ist im Krankenhaus, weil Rosa einen Herzanfall hatte.«
»Oh, mein Gott!«, keuchte Nick. »Wie geht’s ihr?«
»Das hat er nicht erwähnt, weil er nicht so lange reden wollte. In der Klinik sind Handys verboten. Er hat gesagt, wenn wir hinkommen, wird er uns alles erzählen.«
Rastlos wanderte Kyrian durch den Warteraum. In seinem Innern kämpften Angst und Wut. Dafür würde er Desiderius den Kopf abhacken. Zumindest sollte der Daimon büßen, was er verbrochen hatte.
»Allmächtiger Zeus, du musst Rosa retten«, flüsterte er zum hundertsten Mal.
»Kyrian?«
Als er Amandas leisen Ruf hörte, drehte er sich um. Erfreut und maßlos erleichtert sah er sie auf sich zukommen.
Dann riss er sie in seine Arme und presste sie so fest an seine Brust, dass sie protestierte. Doch er konnte nicht anders, von einem übermächtigen Glücksgefühl erfüllt, weil sie lebte, weil ihr nichts zugestoßen war.
Seit er wusste, wie mühelos Desiderius alle Mauern durchdrang, hatte er ständig Angst um sie. Überall konnte der Daimon über sie herfallen und jeden Menschen benutzen, um sie zu töten. Diese Erkenntnis erschreckte Kyrian.
Im Hintergrund seines Bewusstseins meldete sich eine warnende Stimme.
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