Naechtliches Schweigen
blieb ihnen noch. In einer Stunde würde Schwester Immaculata in ihren festen schwarzen Schuhen den Flur entlangschlurfen und ihre warzige Nase missbilligend in jeden Raum stecken, um sich zu vergewissern, dass die Plattenspieler schwiegen und alle Kleidungsstücke ordentlich in den Spinden hingen.
Eine Stunde noch. Emma fürchtete, dass die nicht ausreichen würde.
»Spürst du noch was?«
»Ein bisschen.«
Mariannes Augen wurden schmal. Auf dem Plattenteller drehte sich die neueste Scheibe von Billy Joel, und sie konnte seinen Worten nur zustimmen. Katholische Mädchen fingen viel zu spät damit an.
»Emma, du drückst dir jetzt seit zwanzig Minuten Eiswürfel an die Ohren. Du müsstest längst Frostbeulen haben.«
Eiskalte Tropfen rannen Emmas Arm herunter, doch sie presste eisern das Eis an die Ohren. »Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?«
»Natürlich.« Mariannes Hüften zeichneten sich unter dem schlichten Baumwollnachthemd ab, als sie zum Spiegel ging, um die kleinen Goldkugeln in ihren frisch durchstochenen Ohrläppchen zu bewundern. »Ich hab' meiner Cousine genau zugeguckt, als sie mir die Ohrlöcher gestochen hat.« Mit übertrieben französischem Akzent fuhr sie fort: »Und iisch 'abe alles Nötige hier. Eis, Nadel.« Frohlockend hielt sie die im Lampenlicht glitzernde Nadel hoch. »Und die Kartoffel, die wir uns in der Küche ausgeborgt haben. Zwei kleine Pieker, und deine öden Ohrläppchen verfügen über das Flair der großen Welt.«
Emma beäugte die Nadel misstrauisch. Gab es denn keine Möglichkeit, aus dieser Sache mit intakten Ohrläppchen und unverletztem Stolz herauszukommen? »Ich hab' Papa nicht um Erlaubnis gefragt.«
»Herrgott noch mal, Emma, das ist deine persönliche Entscheidung. Du kriegst deine Tage, du hast schon Busen - na ja, ansatzweise zumindest«, fügte sie grinsend hinzu. »Du bist eine Frau!«
Wenn Frausein bedeutete, sich von seiner besten Freundin eine Nadel durch das Ohrläppchen bohren zu lassen, dann war dieser Zustand gleich weniger erstrebenswert. »Ich besitze gar keine Ohrringe.«
»Ich hab' dir doch gesagt, ich leih' dir welche von meinen. Ich hab' hunderte. Komm schon, beiß die Zähne zusammen.«
»Okay.« Tief durchatmend nahm Emma das Eis vom Ohr. »Aber sei vorsichtig.«
»Na klar.« Marianne kniete sich neben den Stuhl, um mit einem lila Filzstift eine kleine Markierung auf Emmas Ohrläppchen zu zeichnen. »Hör mal, wenn ich aus Versehen danebensteche und deine Halsschlagader treffe, vermachst du mir dann deinen Plattensammlung?« Kichernd drückte sie die Kartoffel hinter Emmas Ohr und stach zu.
Der Schmerz war mehr als unangenehm.
»Sehr gut.« Marianne legte den Kopf auf die Seite. »Wenigstens müssen sich meine Eltern keine Sorgen machen, dass ich je drogensüchtig werde. Sich Spritzen zu setzen, muss ekelhaft sein.«
Vor Emmas Augen drehte sich alles. »Du hast gesagt, ich würde gar nichts spüren.« Ihr Magen hob sich, und sie konzentrierte sich darauf, ruhig weiter zu atmen. »Scheiße, du hast auch nicht gesagt, dass ich was hören würde.«
»Ja, ja. Aber Marcia und ich haben uns vorher eine halbe Flasche Bourbon aus Daddys Hausbar reinzogen. Wir haben rein gar nichts mehr gehört oder gemerkt.« Marianne hob den Kopf und blickte die Freundin scharf an. Blut zeigte sich auf Emmas Ohr, ein kleiner Tropfen nur, doch sie fühlte sich in den Zombie-Film versetzt, den sie sich mit ihrer Cousine zusammen angesehen hatte.
»Wir müssen noch das andere Ohr machen.«
Emma schloss die Augen. »Alles, nur das nicht.«
»Du kannst nicht mit nur einem Ohrring rumlaufen. Wir haben's fast geschafft, Emma.« Mit klammen Händen zog sie die Nadel heraus und bereitete sich auf die zweite Runde vor. »Ich muss ja die ganze Arbeit machen. Du brauchst nur dazuliegen.«
Mit zusammengebissenen Zähnen bohrte sie der stöhnenden Emma die Nadel in das andere Ohrläppchen.
»Geschafft! Jetzt musst du nur noch Jod drauf tun, damit du keine Entzündung kriegst. Und kämm dir die Haare über die Ohren, damit die Schwestern erst mal nichts merken.«
Als sich die Tür öffnete, sprangen beide Mädchen erschrocken auf. Aber nicht Schwester Immaculata, sondern Teresa Louise Aleott, diese Nervensäge, stand, in einen pinkfarbenen Bademantel gehüllt, auf der Schwelle.
»Was treibt ihr denn da?«
»Wir feiern eine Orgie.« Marianne ließ sich wieder auf das Bett fallen. »Kannst du eigentlich nicht anklopfen?«
Teresa lächelte nur. Sie gehörte
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