Naechtliches Schweigen
dir sagen, dass die Nonnen recht haben? Dass es eine Sünde ist? Vielleicht stimmt das sogar. Aber im wirklichen Leben, Emma, im wirklichen Leben sündigen die Menschen nun mal. Brian war einsam.«
»Einsamkeit berechtigt also dazu, mit irgendeinem Fremden zu schlafen?«
»Gott wusste schon, was er tat, als er dafür sorgte, dass ich nie Vater werden würde«, murmelte Johnno zu sich selbst. Dann nahm er einen neuen Anlauf. Hier war absolute Aufrichtigkeit gefragt. »Weißt du, Kindchen, Sex ist eigentlich ziemlich bedeutungslos; das aufregende Gefühl ist schnell vorbei, und dann bleibt nur Leere und ein schaler Geschmack im Mund. Doch wenn du jemanden liebst, dann ist das anders. Eines Tages wirst du das selber herausfinden. Wenn echte Gefühle ins Spiel kommen, dann ist Sex, na, man könnte fast sagen, eine heilige Handlung.«
»Ich verstehe es einfach nicht, und ich will es auch nicht verstehen! Er ist losgegangen, hat diese Frau aufgegabelt und sie auch noch bezahlt! Und dann das Kokain! Ich hab's mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich wusste ja, dass Stevie... aber von Papa hätte ich das nie gedacht. Niemals!«
»Es gibt viele Arten von Einsamkeit, Emma.«
»Nimmst du das Zeug auch?«
»Früher hab' ich's getan.« Es war ihm peinlich, ihr eine Schwäche einzugestehen. Seltsam, bis zu dem Moment, wo er ihr seine eigenen Verfehlungen beichten musste, war ihm gar nicht bewusst geworden, wie sehr er sie liebte. »Ich hab' wohl nicht viel ausgelassen. Die sechziger Jahre, Emma, das musste man einfach erlebt haben.« Leise lachend zog er sie näher zu sich heran. »Ich hab' die Drogen aufgegeben, weil ich keinen Sinn mehr darin gesehen habe. Außerdem passte es mir nicht, die Kontrolle über mich zu verlieren. Deswegen bin ich aber noch lange kein Held. Ich hab's eben viel leichter, ich stehe nicht unter solchem Druck wie Brian. Er nimmt sich alles zu Herzen, ich nehm' alles, wie's kommt. Siehst du, für mich ist nur die Band wichtig, aber Brian sorgt sich um die ganze Welt. So war er schon immer.«
Emma hatte das Bild ihres Vaters, der den Kopf über die feinen weißen Linien beugte, noch immer vor Augen. »Aber das ist doch keine Rechtfertigung.«
»Nein.« Johnno lehnte seinen Kopf an ihren. »Wohl kaum.«
Jetzt rollten ihr doch heiße Tränen über die Wangen. »Ich will ihn nicht so sehen. Ich will das alles gar nicht wissen. Ich liebe ihn doch!«
»Das weiß ich. Er liebt dich auch. Wie wir alle.«
»Wenn ich nicht nachts rausgegangen wäre, wenn ich nicht hätte allein sein wollen, dann wäre das nicht passiert.«
»Du hättest es nur nicht mitbekommen. Passiert wäre es trotzdem.« Johnno gab ihr einen flüchtigen Kuss auf das Haar. »Jetzt musst du akzeptieren, dass auch dein Vater Fehler hat.«
»Es ist nicht mehr so wie vorher, nicht wahr, Johnno?« Traurig ließ sie sich gegen ihn sinken. »Es wird nie wieder so sein wie vorher.«
15
New York, 1982
»Was meinst du, was er sagen wird?« Marianne wuchtete ihren Koffer aus dem Taxi, während Emma bezahlte.
»Er wird wahrscheinlich hallo sagen.«
»Ach geh, Emma.«
Emma strich ihr im Abendwind flatterndes Haar zurück. »Er wird fragen, was zum Teufel wir hier wollen, und ich werde es ihm erklären.«
»Und dann ruft er deinen Vater an, und wir landen beide am Galgen.«
»In diesem Staat wird niemand mehr gehängt.« Emma ergriff ihren eigenen Koffer und holte tief Atem. Es war gut, wieder hier zu sein. Und diesmal gedachte sie zu bleiben.
»Gaskammer, Erschießungskommando, alles egal. Dein Vater bringt uns um!«
Emmas Hand lag schon auf dem Türknauf. »Noch kannst du zurück.«
»Nie im Leben.« Marianne ordnete ihre kurzen roten Haare. »Dann mal rein in die Höhle des Löwen!«
Emma betrat das Haus und blieb kurz stehen, um den Hausmeister zu begrüßen. »Hallo, Carl.«
»Miß - wie, Miß McAvoy.« Carl legte sein Pastramisand- wich beiseite und verbeugte sich. »Es muss schon über ein Jahr her sein. Sie sind ja erwachsen geworden.«
»Eine echte Collegefrau.« Lachend deutete sie auf Marianne. »Das ist meine Freundin, Miß Carter.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen, Miß Carter.« Carl bürstete einige Krümel von seiner Uniform. »Weiß Mr. Donovan, dass Sie kommen?«
»Natürlich«, log Emma süß lächelnd. »Hat er Ihnen nichts gesagt? Typisch Johnno! Wir bleiben nur ein paar Tage.« Noch während sie sprach, näherte sie sich unauffällig den Fahrstühlen, um zu vermeiden, dass Carl oben anrief und die Katze zu früh
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