Naerrisches Prag
verdüsterte schon den Horizont.
Wieder unten, tranken wir im Gästegewimmel in der phantasielos komfortablen Hotelhalle mit zahlreichen in der Hitze vor sich hin dösenden Touristen und einer auffallend großen nimmermüde herumtobenden Kinderschar schnell ein kaltes Mineralwasser und begaben uns zu unserem nächsten Programmpunkt, der lautete: Besichtigung des Ethnographischen Museums.
Diesem Besuch sah ich gespannt entgegen. Mit der Gedrängtheit und europäischen Versonnenheit Prags vertraut, freute ich mich auf die Zügellosigkeit der afrikanischen Phantasie. Und in der Tat: Hier standen, hockten und umgaben mich Gestalten wie aus Tausendundeiner Nacht. Masken, Trommeln, Waffen, bunte Perlen und ein Reichtum an fremdartigen Geweben. Bei der Bekleidung und Ausschmückung symbolischer Figuren kennt die Phantasie der Senegalesen keine Grenzen.
»Und wann gehen wir in die Favela?«
Beim Verlassen des Museums wiederholte ich meinen seit den ersten Stunden meines Aufenthaltes starrköpfig vorgebrachten Wunsch.
»Morgen oder übermorgen, wie es uns das Programm erlaubt. Haben Sie keine Angst, ich bringe Sie bestimmt dorthin.«
Als man mich nach meiner Ankunft nach etwaigen besonderen Wünschen befragt hatte, betonte ich, auch die Kehrseite der interessanten, von Menschen verschiedenster Art wimmelnden Stadt kennenlernen zu wollen, das Elendsviertel, die Favela.
Vorher genoß ich noch an einem Abend die Gastfreundschaft des Botschafters von Österreich und die hervorragende Küche seiner Gattin. Zu dieser Lesung versammelte sich in der großen Halle der schönen Residenz eine hochrangige Gästemenge. Elegante schwarze und weiße Damen, Universitätsprofessoren, Diplomaten, höhere Beamte, Künstler. Durchwegs aufmerksame Zuhörer mit interessanten Fragen und Überlegungen zu meinem vorgelesenen »Traumcafé«. Es freute mich natürlich auch, zu hören, wie die anwesenden Exzellenzen von Prag geradezu schwärmten. »Eine wunderschöne Stadt«, meinten sie, »mit einer bewegenden Geschichte. Jetzt haben Sie ja auch einen vortrefflichen Präsidenten.« Das galt dem Schriftsteller Václav Havel. Es war ein allseits erfreulicher und angenehmer Abend.
»Und wann gehen wir in die Favela?« fragte ich auf dem Heimweg.
»Morgen.«
Mit Elendsvierteln hatte ich schon einige Erfahrungen, ging dort während meines Kriegsaufenthaltes in Casablancaein und aus, kannte sie auch in der Metropole Mexikos. Seither sind viele Jahre vergangen, die Wissenschaft hat bahnbrechende neue Entdeckungen gemacht, kann heutzutage alles berechnen, vieles aufschlüsseln und vorhersagen, Gefährliches verhüten. Und dennoch ...
Es erschüttert mich immer von neuem, wenn ich auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes eine hoffnungslos lange Menschenschlange mit halb oder schon beinahe ganz verhungerten Kindern sehe, meistens irgendwo in Afrika oder sonstwo in weiter Ferne, wie sie mit einem hübschen Eimer aus buntem Kunststoff in der Hand nach ein bißchen Essen oder Trinkwasser anstehen. Mit praktischen Gebrauchsgegenständen ist offenbar überall und unter allen Umständen business zu machen.
Nun lernte ich in Dakar Claudia kennen, eine junge Österreicherin, die in Senegal beim Goethe-Institut mitarbeitet, vor allem aber ein ganz anderes Anliegen hat. Sie ist in der senegalesischen Hauptstadt das Herz einer Organisation für die Bekämpfung des Analphabetismus. Ich erfuhr, daß mehr als 60 Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes weder schreiben noch lesen können. Über die Hälfte aller Bürger!
Claudia fuhr mit uns in die Favela.
Die Straße, durch die wir uns bewegten, ist von Sand bedeckt. Von der Küste wird ständig mehr davon herangeweht. Im Sand liegen Kinder, laufen Ziegen umher, ein kleines Pferd scharrt mit den Hufen, eine alte blinde Frau sitzt bewegungslos da. Männer hocken in dem Sand, einer schlägt gerade unter einem verkümmerten Baum sein Wasser ab, ein Stückchen weiter tut ein Junge dasselbe. Daneben stillt eine schöne junge Mutter ihr Baby. All das wiederholt sich endlos: Sand, Tiere, Menschen. Heute,morgen, seit Jahren. So ist es hier, so war es immer, so wird es ...
»Claudia, kann dagegen etwas getan werden?«
Sie schüttelt nur ein wenig den Kopf, steigt aus dem Auto und wird sofort von Kindern umringt, scherzt mit ihnen in fließendem Wolof. Sie wohnt auch hier, zwar nicht im Sand, sondern in einem Haus, aber ebenso elend wie ihre einheimischen Hausgenossen.
In Prag können so gut wie alle Menschen
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