Naerrisches Prag
lesen und schreiben. Um die wenigen Ausnahmen bemüht man sich. Bei uns in Prag ...
»Hier muß man anders denken und handeln«, sagt die junge Österreicherin, »muß die Traditionen verstehen, Erwartungen konkretisieren, Schritt für Schritt Möglichkeiten schaffen. Unsere Analphabetenkurse werden gut besucht.«
»Alles in Wolof?«
»Selbstverständlich«, betont sie, und ich schäme mich, eine so dumme Frage gestellt zu haben. Und hier ahne ich plötzlich einen Zusammenhang mit der Rezitation des »Erlkönig« vor meiner Lesung aus dem »Traumcafé einer Pragerin«. Was mir ein bißchen kurios erschien, war an diesem Ort eine richtige kulturelle Tat.
Claudia schläft in einem winzigen, trostlosen Raum auf einer Matte auf dem Fußboden. Sie wird von den Frauen im Haus oft zu gemeinsamen Mittagessen eingeladen, zu einem Bohnen- oder Reisgericht, das im Freien in großen Tongefäßen gekocht wird. Man hat Vertrauen zu ihr, deshalb sind wohl auch die Kurse, die sie ins Leben gerufen hat, gut besucht, wovon ich mich selbst überzeugen konnte.
Bei unserer Heimfahrt in früher Abendstunde durchdie Favela saßen und lagen noch mehr Menschen im Sand. Unter ihnen die Glücklicheren, die irgendwo in der Stadt, etwa beim Bewachen geparkter Autos oder sonstwie, ein paar Münzen verdient haben und jetzt »nach Hause« zurückgekehrt sind. In den Sand.
Als ich mich an diesem Abend in meinem kleinen Zimmer in unserem Botschaftsgebäude nach erfrischender heißer und kalter Dusche zur Ruhe legte, plagte mich der Gedanke: Nun habe ich also die Favela gesehen, habe flüchtig ein weiteres Kapitel menschlichen Elends kennengelernt, nehme diese Erfahrung mit nach Hause. An dem Alltag der Menschen, an den miserablen, trostlosen Aussichten der Sandkinder ändert sich damit freilich überhaupt nichts. Ich kann und werde über sie erzählen. Das ist aber auch alles und leider so wenig, als würde ich ein paar lose Körnchen von dem uferlosen Sand wegpusten.
Mein Aufenthalt in Dakar näherte sich seinem Ende. Bereichert um neue Erkenntnisse und Begegnungen mit interessanten, andersartigen Menschen, insbesondere bei meiner Lesung an der Universität vor einer nur schwarzen studentischen Zuhörerschaft, trat ich den Heimflug an. Mein beinahe als waghalsig beurteilter Entschluß vor dem Antritt dieser Reise verwandelte sich nun in die freudige Verwunderung, daß sie vollauf gelungen war. Ich habe den Abstecher von Prag nach Dakar nicht nur gut überstanden, sondern auch – wie denn nicht – in vollen Zügen genossen.
Der Rückflug – ich startete in Dakar um elf Uhr abends und landete in Prag in den Mittagsstunden des nächsten Tages – schien mir allzu schnell zu gehen. Aus einer Welt, die so ganz anders und so vielfältig ist, gleichzeitig schönund erschreckend, in wenigen Stunden in die eigene, vertraute zurückzukehren, machte mir zu schaffen, berührte mich ganz eigenartig.
Wo blieb da das Wesen, das gleichzeitig an drei Tischen zu sitzen versteht und scheinbar auf allerhand Fragen mit ziemlicher Sicherheit eine Antwort weiß? Die, die mir jetzt durch den Kopf zogen, hätte es, so fürchtete ich, dennoch kaum beantworten können. Meine Heimatstadt ist zu weit von Afrika entfernt, auch wenn ich sie in mir weiß, wo immer ich gerade bin.
In Prag gibt es einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, gilt für die meisten Stätten dieser Art. Ich meine nämlich den sogenannten Neuen Jüdischen Friedhof in Strašnice, am oberen Ende des Stadtviertels mit dem einladenden Namen Weinberge (Vinohrady). Weinstöcke würde man dort in unseren Tagen freilich vergeblich suchen. Der köstliche Saft hat nichtsdestotrotz im Laufe der Jahre in ungezählten feinen und volkstümlichen Lokalitäten aller Art und in allen Teilen der Stadt seinen beinahe triumphalen Einzug gehalten, soll mancherorts sogar das Bier, den traditionellen Trunk der Tschechen, in den Hintergrund gedrängt haben.
In Mailand hat man mich einmal auf einen denkwürdigen Friedhof geführt, eine Kuriosität, die man gesehen haben muß. Dort schlagen die reichsten Norditaliener ihre letzte Ruhestätte auf, die sie im voraus, wie in einem renommierten Hotel, rechtzeitig buchen, ja auch einrichten lassen. Man findet hier kleine Paläste mit prächtig ausgestatteten und dekorierten Vor- und einer Art Aufenthaltsräumen,als ob die Verblichenen ihre Management- und Finanzkonferenzen auch an diesem Ort abzuhalten beabsichtigten.
Nichts
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