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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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ich Ihnen Otávio zurückgeben.«
    »Aber das ist ungeheuerlich!«, rief Lídia aus.
    »Aber warum? Ist es ungeheuerlich, zwei Frauen zu haben? Sie wissen sehr wohl, dass das nicht so ist. Ich nehme an, es ist gut, schwanger zu sein. Aber reicht es, ein Kind zu erwarten, oder ist das noch zu wenig?«
    »Man fühlt sich wohl«, hatte Lídia mitgerissen, mit großen Augen, gesagt.
    »Wohl?«
    »Manchmal hat man auch Angst vor der Geburt«, entgegnete sie mechanisch.
    »Haben Sie keine Angst, jedes Tier bekommt Junge. Sie werden eine leichte Geburt haben und ich auch. Wir haben beide ein breites Becken.«
    »Ja …«
    »Ich will auch haben, was das Leben bietet. Warum nicht? Denken Sie, ich bin unfruchtbar? Von wegen. Ich habe noch keine Kinder, weil ich keine wollte.«
    Es kommt mir vor, als hielte ich ein Kind auf dem Arm, dachte Joana. Schlaf, mein Kind, schlaf, sag ich ihm. Das Kind ist warm, und ich bin traurig. Aber es ist die Traurigkeit des Glücklichseins, diese Friedlichkeit und Genügsamkeit, die ein Gesicht ruhig und abwesend erscheinen lässt. Und wenn mein Kind mich berührt, dann raubt es mir nicht so wie die anderen meine Gedanken. Aber später, wenn ich es mit diesen zarten, schönen Brüsten stille, wird mein Kind durch meine Kraft wachsen und mich mit seinem Leben erdrücken. Es wird sich von mir entfernen, und ich werde die alte, nutzlose Mutter sein. Ich werde mich nicht ausgelacht fühlen. Nur besiegt, aber ich werde sagen: Ich weiß nichts, ich kann ein Kind gebären, und ich weiß nichts. Gott wird meine Demut entgegennehmen und sagen: Ich konnte eine Welt gebären und weiß nichts. Ich werde Ihm und der Frau mit der Stimme näher sein. Mein Kind wird sich in meinen Armen bewegen, und ich werde mir sagen: Joana, Joana, das ist gut. Ich werde kein anderes Wort aussprechen, weil die Wahrheit das sein wird, was meinen Armen guttut.

DER MANN
    Zwischen einem Augenblick und dem folgenden, zwischen dem Block der Vergangenheit und den Nebeln der Zukunft die weiße Unbestimmtheit der Zwischenzeit. Leer wie die Entfernung von einer Minute zur anderen auf dem Zifferblatt der Uhr. Der Untergrund der Ereignisse schweigend und tot aufsteigend, ein wenig Ewigkeit.
    Nur eine ruhige Sekunde, die vielleicht ein Stück Leben vom nächsten trennt. Nicht einmal eine Sekunde, sie konnte sie nicht in Zeit fassen, jedoch lang wie eine unendliche Gerade. Tief, von weitem kommend – ein schwarzer Vogel, ein anwachsender Punkt am Horizont, sich dem Bewusstsein nähernd wie ein Ball, der vom Ende zum Anfang zurückgeworfen wird. Und explodiert vor den erstaunten Augen in eine Essenz aus Schweigen. Hinter sich lässt er den vollkommenen Zwischenraum wie einen einzigen Ton, der in der Luft vibriert. Danach wiedergeboren werden, die eigentümliche Erinnerung an den Zwischenraum bewahren, ohne zu wissen, wie man ihn mit dem Leben verbinden kann. Für immer den kleinen, leeren Punkt bei sich tragen – verwundert und jungfräulich, zu flüchtig, als dass er sich enthüllen ließe.
    Joana fühlte ihn, als sie Lídias kleinen Garten durchquerte; nicht wissend, wohin sie gehen wollte, nur in dem Bewusstsein, dass sie alles, was sie erlebt hatte, hinter sich gelassen hatte. Als sie die kleine Pforte schloss, entfernte sie sich von Lídia, von Otávio und, von neuem in sich selbst allein, lief sie weiter.
    Ein aufkommender Sturm hatte sich beruhigt, und die frische Luft wehte sachte. Sie stieg wieder den Hügel hinauf, und ihr Herz schlug ohne Rhythmus. Sie suchte den Frieden jener Wege um diese Zeit, zwischen Nachmittag und Abend, eine unsichtbare Zikade zirpte den immergleichen Gesang. Die alten, feuchten Mauern waren verfallen, überwuchert von windempfindlichen Reben und Kletterpflanzen. Sie hielt an, ohne ihre Schritte hörte sie die Stille sich bewegen. Nur ihr Körper störte diese Ruhe. Sie stellte sie sich ohne ihre Gegenwart vor und erriet die Frische, die diese toten Dinge haben mussten, vermischt mit den anderen, die auf so zerbrechliche Weise lebendig waren wie zu Beginn der Schöpfung.
    Die hohen Häuser waren geschlossen, zurückgezogen wie Türme. Man gelangte auf einer langen, düsteren, ruhigen Straße zu einer der Villen, das Ende der Welt. Erst wenn man ihm näher kam, sah man einen Hang, den Beginn einer anderen Straße, und begriff, dass man nicht am Ende war. Das große, niedrige Haus mit den zerbrochenen Scheiben, geschlossenen Läden, die voller Staub waren. Sie kannte diesen Garten gut, wo flauschige

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