Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
Vom Netzwerk:
ist sie noch geblendet. Ich bin vorübergehend wunderbar … Herr, Herr … ich laufe, berauscht, mein Körper fliegt, zögert … wohin? Eine aufgeschreckte, schwerelose Substanz liegt in der Luft, ich habe sie eingefangen, es ist wie der Augenblick, der dem Weinen eines Kindes vorausgeht. In jener Nacht, ich weiß nicht, wann, da waren Treppen, wedelnde Fächer, zarte Lichter, deren sanfte Strahlen hin und her schwankten wie die Köpfe verständiger Mütter, da war ein Mann, der vom Horizont zu mir herübersah, ich war eine Fremde, aber ich siegte ohnehin, auch wenn man etwas unbeachtet ließe. Alles glitt sachte dahin, in wortloser Übereinstimmung. Es war schon gegen Ende … Ende wovon? der edlen, schmachtenden, geneigten Treppe, die mit dem langen, strahlenden Arm winkte, das schöne, stolze Geländer, das Ende der Nacht, als ich in die Mitte des Raumes glitt, sachte wie eine Luftblase. Und plötzlich, stark wie ein Donnerschlag, jedoch stumm wie ein stummer Schrecken, und plötzlich, noch ein Schritt und ich konnte nicht weitergehen! Der Saum meines Tüllkleides erbebte in einer Grimasse, kämpfte, wand sich und zerriss an der scharfen Kante eines Möbels und blieb dort, zitternd, schnaufend, verdutzt unter meinem erstaunten Blick hängen. Und auf einmal hatte sich alles verhärtet, ein Orchester war in schiefen Tönen erklungen und hatte sofort wieder geschwiegen, etwas Triumphierendes und Tragisches lag in der Luft. Ich stellte fest, dass ich im Grunde nicht überrascht war, dass alles schon langsam darauf zugesteuert war und sich jetzt auf seiner wahren Ebene überstürzt hatte. Ich wollte weinend in meinem armseligen, zerrissenen und traurigen Kleid ohne Saum hinauslaufen. Jetzt schienen die Lichter mit Macht und voller Stolz, die Fächer gaben strahlende, listige Gesichter frei, von fern vom Horizont lachte der Mann mir zu, das Geländer wich zurück, schloss die Augen. Niemand brauchte mehr zu lügen, denn ich wusste schon alles! Auch jetzt werde ich mich in einen anderen Zustand stürzen. Warum? Warum? Ich werde von hier weggehen, nach Hause, von einem Augenblick zum andern der Riss im Kleid, den schneidenden Schrei des Orchesters hören und plötzlich das Schweigen, alle Musiker tot auf dem Podium in dem großen bösen, leeren Saal. Dem Riss ins Gesicht sehen, aber ich habe immer Angst gehabt, vor Leiden zu zerbersten wie der Schrei des Orchesters. Niemand weiß, wie weit ich fast wie im Triumph gehen kann, als sei ich eine Schöpfung: Es ist ein Gefühl übermenschlicher Macht, das ich bei einem gewissen Grad von Leid empfinde. Eine Minute später aber, und man weiß nicht mehr, ob es Macht oder vollkommene Machtlosigkeit ist, so als wollte man mit dem Körper und dem Gehirn einen Finger bewegen und schafft es einfach nicht. Es ist nicht einfach nur, es nicht zu schaffen: Aber alles weint und lacht zur selben Zeit. Nein, gewiss habe ich diese Situation nicht erfunden, und das überrascht mich am meisten. Denn mein Verlangen nach Erfahrung würde nicht so weit gehen, diesen kalten Stahl herauszufordern, der an das Fleisch rührt, das endlich warm ist von der gestrigen Zärtlichkeit. Oh, sich nur nicht zum Märtyrer machen: Du weißt doch, dass du nicht lange in demselben Zustand verharren würdest, du würdest erneut Lebenskreise öffnen und schließen, sie beiseitewerfen, verwelkt … Auch dieser Augenblick würde vorübergehen, auch wenn Lídia nicht nach Otávio verlangen würde, auch wenn ich nie erfahren hätte, dass Otávio sie nicht verlassen hatte, obwohl er mit mir verheiratet war. Ist es nicht so, dass ich diesem drohenden Schmerz eine gewisse süße und ironische Freude beimische? ist es nicht so, dass ich mich in diesem Moment selbst mag? Erst wenn ich dieses Haus verlasse, werde ich mir gestatten, den Riss im Kleid zu betrachten. Nichts ist geschehen, nur habe ich gestern eine Erneuerung begonnen und ziehe mich zurück, weil diese Frau unruhig ist, weil sie ein Kind von Otávio erwartet. Vor allem hat es keine wesentliche Verwandlung gegeben, all das war schon da, nur der Riss im Kleid deutet auf etwas hin. Und wirklich, wirklich, Kopfschmerzen, Erschöpfung, wirklich alles steuerte nur darauf hin.
    »Ich kann auch ein Kind bekommen«, sagte sie laut.
    Die Stimme klang schön und klar.
    »Ja«, murmelte Lídia erstaunt.
    »Ich auch. Warum nicht?«
    »Nein …«
    »Nein? Doch … Ich werde Ihnen Otávio geben, nicht jetzt, sondern wann ich es will. Ich werde ein Kind bekommen und dann werde

Weitere Kostenlose Bücher