Nahe Null: [gangsta Fiction]
Hauptmann der Staatssicherheit, Jana Nikolajewna Warchola. Abdallah ist Katholik geworden. Nicht orthodox, weil ich Katholikin bin. Was verziehst du das Gesicht? Das verstehe ich nicht - warum behandelt ihr Russen, ein christliches Volk, die Katholiken wie Fremde, die Moslems dagegen wie ungezogene Verwandte?«
»Ich verzieh nicht das Gesicht. Ich wundere mich nur.«
»Mein Urgroßvater war Weiß-Tscheche, und dann hat er in der Tscheka gedient.«
»Als Rot-Tscheche«, bemerkte Jegor.
»So ist unsere Familie da reingeraten - Tscheka, NKWD, MGB, KGB, FSK, FSB ... Ich habe dich nicht bespitzelt, höchstens ein kleines bisschen. Ich hatte Igor bloß gebeten, einen Mann für mich zu finden, und du hast gepasst. Ich fühle mich wirklich wohl mit dir. Igor kenne ich übrigens schon lange, mein Vater hat ihn schon betreut, als er noch im Verlag arbeitete. Er war oft bei uns zu Hause, brachte mir immer Konfekt mit. Es hat nicht geschmeckt. Mein Vater ist noch immer sein Dach. General Warchola. Mal gehört? Na, und ich unterstütze ihn manchmal.«
»Für einen Hauptmann der Staatssicherheit bist du zu jung und zu geschwätzig«, sagte Jegor, den seine eigene Verwirrung allmählich rasend machte. Er wusste nicht, was er glauben sollte und was nicht, und ärgerte sich darüber.
»Ich bin ein guter Offizier, Jegor. Ich habe drei Ehrenkreuze, im Kampf verdient. Meinen Rang verdanke ich also nicht meinem Vater. Den hab ich mir selbst erarbeitet. Und was die Geschwätzigkeit angeht - täusch dich nicht, du hast noch keinerlei Information erhalten, nur ein paar nichtige Auskünfte. Du weißt doch, es gibt auf der Welt so viele interessante Dinge ohne die geringste Bedeutung. Neunundneunzig Komma neun Prozent der Informationen, die wir bekommen, sind bloße Hülle, Schlacke, hohles Zeug.« Ihrem Mann lief Speichel aus dem Mund, er fing an zu heulen, doch Jana wischte ihn mit einer Serviette ab und zog einen gigantischen Nuckel aus einer am Rollstuhl befestigten Tasche. Abdallah beruhigte sich, saugte schmatzend und wurde erneut still wie ein Stein, als wäre er plötzlich tot.
»Schön, Sarah, erlaube bitte, dass ich dich so nenne. Ich bin ja nicht hergekommen, um mir etwas über deine Verdienste für das Vaterland anzuhören oder zu erfahren, dass Chief informeller Mitarbeiter der Behörde war.« Jegors Wut hatte ihren Höhepunkt erreicht, sich stabilisiert und lag nun als gleichmäßiges Grollen unter seinen Worten. »Du warst doch auch im Klub
Unter uns
, ich hab mich nicht geirrt, das warst du.«
»Das war ich.« Jana trank einen Schluck Saft. »Igor hat mich gebeten, dir zu helfen. Ich weiß, was dich so sehr beschäftigt.
Ein Klub Unter uns existiert nicht, du warst doch vorvorgestern da und hast es selbst gesehen. Es existiert nur eine Bande stinkreicher, berühmter und einflussreicher Bürger, die auf extreme Spektakel stehen. Genauer, nicht extreme, sondern Grenzen überschreitende. Das Studio >Kafka's Pictures< dreht Filme, die nach ganz gewöhnlichem Durchschnittskino aussehen. Aber die Gewaltszenen darin sind nicht bloß naturalistisch, sondern ganz real. Sie haben zum Beispiel Hamlet verfilmt, und darin wurden der König, die Königin, der Prinz und Laertes ganz echt getötet. Das heißt, die Schauspieler, die sie spielten, wurden getötet. Bei den Dreharbeiten. Direkt am Set, in Kostümen und Dekorationen. Zwei von ihnen, Laertes und Hamlet, waren Freiwillige, sie waren todkrank und willigten gegen eine Zahlung an ihre Angehörigen ein, sich vor laufender Kamera mit vergifteten Klingen verletzen zu lassen. Die beiden anderen wurden gelinkt, sie dachten bis zum Schluss, sie würden in einem ganz normalen Film mitspielen. Ich habe den Film gesehen. Gertrud sieht sehr verblüfft aus, als sie begreift, dass das Gift tatsächlich wirkt. Diese Filme laufen bei geschlossenen Vorstellungen und werden im engen Kreis als harte Avantgarde propagiert. Die Trendsetter gehen rein und haben keine Ahnung, dass sie sich echte Morde ansehen. Für die Organisatoren ist es ein besonderes Vergnügen, ihrer Lust am Tod vor aller Augen, beinahe öffentlich zur Schau zu stellen.«
»Das heißt, Plaksa ...« Jegor brachte die Worte »tot« oder »ermordet« nicht über die Lippen. »Sie lebt nicht mehr?«
»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Jana. »Manchmal lässt man sie am Leben, sie werden nach den Dreharbeiten reanimiert und wieder aufgepäppelt.«
»Wozu?«
»Für ... für andere Filme. Sie haben manchmal
Weitere Kostenlose Bücher