Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nana

Titel: Nana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
mächtiger, ein Frösteln, das ihm von den Beinen bis in die Brust und den Schädel stieg. Dann wankte er gleich einem Baume, der von einem heftigen Sturme geschüttelt wird, und fiel in die Knie, wobei alle seine Glieder krachten. Voll Verzweiflung streckte er die Hände in die Luft und stammelte: Es ist zu viel, mein Gott, es ist zu viel. Alles hatte er sich gefallen lassen, doch jetzt konnte er nicht weiter, er fühlte seine Kräfte zu Ende gehen. Er befand sich in jenem Dunkel des Seelenzustandes, wo der Mann mit seiner Vernunft zugleich versinkt. In einer verzweiflungsvollen Aufregung reckte er die Hände zum Himmel und rief Gott an.
    Nein, ich will nicht ... Komm mir zu Hilfe! Mein Gott, steh' mir bei, gib mir den Tod ... Nein, nicht diesen Menschen auch noch, mein Gott ... Es ist aus, nimm mich zu dir, daß ich nichts mehr sehe, daß ich nichts mehr fühle, ich gehöre dir an, mein Gott. Vater unser, der du bist! ...
    Im Glauben erglühend, stammelte er ein heißes Gebet. Da berührte ihn jemand an der Schulter. Er erhob den Blick: Es war Herr Venot, überrascht darüber, daß er ihn hier vor dieser verschlossenen Tür im Gebet fand. Gleichsam als habe der Herr seinen Hilferuf erhört, warf sich der Graf dem kleinen Greise an den Hals. Er konnte endlich weinen, er schluchzte und wiederholte:
    Mein Bruder ... Mein Bruder.
    Sein ganzes leidendes Menschentum fand Trost in diesem Schrei. Er benetzte das Gesicht des Herrn Venot mit seinen Tränen, er küßte ihn, indem er, von Schluchzen unterbrochen, stammelte:
    Oh, mein Bruder, wie sehr leide ich ... Sie allein sind mir noch geblieben, mein Bruder ... Führen Sie mich fort. Um Gottes willen, führen Sie mich fort für immer.
    Da schloß Herr Venot ihn an seine Brust und nannte ihn gleichfalls seinen Bruder. Aber er hatte ihm wieder eine herbe Nachricht mitzuteilen. Er suchte ihn schon seit dem vorigen Abend, um ihn zu benachrichtigen, daß die Gräfin Sabine in ihrer Erniedrigung soeben mit dem Chef eines Modewarenhauses durchgegangen sei – ein greulicher Skandal, von dem schon ganz Paris spreche. Als er den Grafen unter dem Einflusse einer solchen religiösen Verzückung sah, hielt er den Augenblick für geeignet, ihm dieses Abenteuer, dieses tragische Ende, in dem sein Haus unterging, sofort mitzuteilen. Der Graf wurde davon nicht sonderlich bewegt; seine Frau ist fort, das macht ihm nichts, er wird später darüber sprechen. In seiner Beklommenheit blickte er abwechselnd auf die Wände dieses Zimmers, auf die Decke und auf die Tür, indem er fortwährend die Bitte wiederholte:
    Führen Sie mich fort, ich kann es nicht länger ertragen; ach, führen Sie mich fort.
    Herr Venot führte ihn fort wie ein Kind. Von da an gehörte er ihm völlig. Muffat fiel wieder in die strengen Pflichten der Religion zurück, sein Leben war vernichtet. Angesichts der Empörung, die sich in den Tuilerien über seinen Lebenswandel kundgab, hatte er seine Entlassung als Kammerherr gegeben. Seine Tochter Estella hatte einen Prozeß gegen ihn angestrengt wegen einer Summe von sechzigtausend Franken, der Erbschaft von einer Tante, die er ihr am Tage ihrer Vermählung hätte ausfolgen sollen. Ruiniert, von den Trümmern seines großen Vermögens kärglich lebend, ließ er sich nach und nach durch die Gräfin vollständig zugrunde richten, die die Reste verschlang, die Nana verschmähte. Sabine, verdorben durch den Verkehr mit dieser Dirne, zum äußersten getrieben, war der gänzliche Ruin, die letzte Zerstörerin des häuslichen Herdes geworden. Nachdem sie verschiedene Abenteuer hinter sich hatte, kehrte sie wieder zurück, und er nahm sie wieder auf in der Ergebenheit christlicher Verzeihung. Sie begleitete ihn von da an wie seine lebendige Schande. Doch immer gleichgültiger geworden, litt er nicht mehr unter diesen Dingen. Der Himmel hatte ihn den Händen des Weibes entrissen, um ihn in die Arme Gottes zu führen. Es war gleichsam eine religiöse Fortsetzung der Wollust Nanas in dem Stammeln, in den Gebeten und den Demütigungen einer verdammten, im Schmutz ihres Ursprunges vernichteten Kreatur. Im Dunkel der Kirchen, auf die kalten Steinplatten hingestreckt, fand er die inneren Freuden von ehemals wieder, die Erschlaffung seiner Muskeln, die süße Erschütterung seines Geistes in der gleichen Befriedigung der unklaren Bedürfnisse seines Wesens.
    An dem Abend, als der Bruch erfolgte, sprach Mignon in Nanas Haus, Villiers-Allee, vor. Er hatte sich endlich an Fauchery gewöhnt; er

Weitere Kostenlose Bücher