Nana
riesengroßer roter Handschuh in die Luft, der aussah wie eine abgehackte, blutige Hand, durch eine gelbe Manschette festgehalten.
Graf Muffat war langsam bis zum Boulevard hinaufgegangen. Er warf einen Blick auf die Straße und ging dann langsam wieder zurück. Die warme, feuchte Luft hatte in dem engen Durchgang allmählich einen durchsichtigen Dunst entwickelt. Trotz der zahlreichen Menge herrschte eine Stille, in der man auf den von Regenschirmen benetzten Steinplatten die Schritte der Spaziergänger hören konnte. Um den neugierigen Blicken der Menge sich zu entziehen, pflanzte der Graf sich vor einem Papierladen auf und betrachtete mit großer Aufmerksamkeit die dort ausgestellten Waren.
Tatsächlich sah er nichts, er dachte an Nana. Warum hatte sie wieder gelogen? Am Morgen hatte sie ihm geschrieben, er möge sich heute abend nicht zu ihr bemühen; ihr Ludwig sei krank, und sie wolle die Nacht bei ihrer Tante zubringen, um ihren Sohn zu pflegen. Doch er schöpfte Verdacht, erschien in ihrer Wohnung und erfuhr da von der Hausmeisterin, daß Madame ins Theater gefahren sei. Das setzte ihn in Erstaunen, denn sie hatte in dem neuen Stücke, das an diesem Tage gegeben wurde, keine Rolle. Wozu die Lüge, und was konnte sie diesen Abend im Varietétheater zu tun haben?
Der Graf merkte gar nicht, daß ein Vorübergehender ihn weggestoßen hatte und daß er jetzt vor der Auslage eines Galanteriewarenhändlers stand, wo eine bunte Menge von Notizbüchern, Zigarrentaschen u. dgl. ausgebreitet lag, die alle eine blaue Schwalbe in der Ecke trugen. Gewiß: mit Nana war eine Veränderung vor sich gegangen. In der ersten Zeit, nachdem sie vom Lande nach Paris zurückgekehrt war, machte sie ihn schier wahnsinnig mit ihren Liebkosungen und ihren Versicherungen, daß er der einzige Mann sei, den sie anbete. Er fürchtete Georges nicht mehr, der von seiner Mutter in Fondettes zurückgehalten wurde. Es blieb noch der dicke Steiner, den der Graf zu verdrängen dachte, ohne sich über den Gegenstand in Erklärungen einzulassen. Er wußte, daß der Bankier wieder einmal in argen Geldverlegenheiten und nahe daran war, von der Börse ausgestoßen zu werden; er klammerte sich nur noch an die Aktionäre der Landessalinen und hoffte, noch eine letzte Einzahlung durchzusetzen. Als der Graf den Bankier einmal bei Nana traf und diese darüber zur Rede stellte, erwiderte Nana in ernstem Tone, sie könne Steiner nach den großen Ausgaben, die er für sie gemacht, nicht wie einen Hund davonjagen. Übrigens lebte er seit drei Monaten in einem solchen Sinnentaumel, daß er kaum eine andere Empfindung hatte als das Bedürfnis, sie zu besitzen. In dem späten Erwachen seines Fleisches bekundete er eine kindische Gier, die keinen Raum übrig ließ weder für die Eitelkeit noch für die Eifersucht. Ein einziges bestimmtes Gefühl traf ihn hart: Nana war nicht mehr so wie früher, sie küßte ihn nicht mehr auf den Bart. Das beunruhigte ihn. In seiner Unkenntnis der Frauen fragte er sich, was sie ihm vorzuwerfen habe. Er glaubte, alle ihre Wünsche befriedigt zu haben, und immer wieder fiel ihm der Brief vom Morgen ein, dieses Lügengewebe, das keinen andern Zweck hatte, als ihr zum Vorwande für den Besuch des Theaters zu dienen. Ein neuer Menschenstrom hatte ihn inzwischen auf der Passage hinausgeschoben und er stand jetzt vor der Auslage eines Restaurateurs in stummer Betrachtung eines riesigen Rheinlachses versunken.
Endlich schien er sich von diesem Anblick losreißen zu wollen. Er blickte auf und sah, daß es nahezu neun Uhr sei. Jetzt mußte Nana bald das Theater verlassen, und er würde die Wahrheit erfahren. Er setzte seinen Weg fort und erinnerte sich der Abende, die er an diesem Orte schon zugebracht, und an denen er gekommen war, um sie nach dem Theater abzuholen. Alle Kaufläden waren ihm schon bekannt; er erkannte sie nacheinander an dem Geruch des Juchtenleders, der Vanille, der Pomaden usw. Er wagte es nicht, vor den Zahltischen der Geschäfte stehen zu bleiben, deren Damen ihn, als eine bekannte Figur, ruhig ansahen. Einen Augenblick schien er die lange Reihe von kleinen runden Fenstern oberhalb der Türen der Kaufläden studieren zu wollen, als ob er sie jetzt zum ersten Male unter dem Gewirre der Firmentafeln entdecke. Dann kehrte er wieder bis zum Boulevard zurück und blieb eine Minute stehen. Der Regen floß jetzt in Form eines feinen Staubes herab, dessen Kälte ihm Gesicht und Hände erfrischte. Er dachte jetzt an seine
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