Nana
Nach weiteren drei Minuten standen sie vor einem neuen Gitter, das die Aussicht auf eine riesige Allee gewährte; es war ein Gang voll dunkler Schatten, aus dessen Hintergrunde die Sonnenscheibe wie ein heller Stern hervorglänzte. Sie standen eine Weile in stummer Bewunderung und ließen dann Ausrufe der Überraschung hören. Sie waren, von Neid erfüllt, mit der Absicht gekommen, sich lustig zu machen, aber was sie sahen, flößte ihnen Achtung ein.
Diese Irma hatte es zu was gebracht.
Auf dem weiteren Wege lösten Baumgruppen, Hecken von Schlingpflanzen, welche die Mauer bekleideten, und kleine Pavillons einander ab. Die Damen, müde von der ewigen Runde, wollten auch das Schloß sehen, nicht nur Bäume und Sträucher. Aber die Mauer nahm kein Ende und trotz der Müdigkeit harrten sie aus. Sie bewunderten die Größe dieser Besitzung. Bei einer plötzlichen Krümmung – man befand sich eben auf dem freien Platz des Dorfes – war die Mauer zu Ende und das Schloß wurde im Hintergrunde eines Ehrenhofes sichtbar.
Alle blieben stehen, festgebannt von dem Anblick der breiten Treppen, der zwanzig Fenster Front und der Größe des einst von Heinrich IV. bewohnten Schlosses, wo man noch sein Schlafzimmer zeigte mit dem großen Bett und den Vorhängen von genuesischem Samt.
Nana seufzte tief auf.
Mein Gott, ist das herrlich, murmelte sie still vor sich hin.
Jetzt ging eine Bewegung durch die Gesellschaft. Vor der Kirche erschien eine Dame und Gaga erklärte, dies sei Irma. Sie erkenne sie genau; trotz ihrer Jahre habe sie noch immer ihre gerade, stolze Haltung, den Glanz ihrer Augen. Man kam von der Vesper; Madame blieb eine Weile unter dem Kirchenportal stehen. Sie trug eine Seidenrobe in der mattbraunen Farbe der welken Blätter; das Gesicht war ernst und würdig wie das einer alten Marquise, die den Schrecken der Revolution entronnen ist. Sie ging, gefolgt von einem Lakai, langsam über den Platz. Die Ortsleute grüßten sie ehrfurchtsvoll; ein Greis küßte ihr die Hand, ein armes Weib wollte sich ihr zu Füßen werfen, sie war mächtig wie eine Königin, reich an Jahren und Ehren. So stieg sie die Stufen der Treppe ihres Schlosses empor und verschwand.
So weit bringt man es, wenn man Ordnung hält, sagte Mignon seinen Söhnen in salbungsvollem Tone.
Nun machte jeder seine Bemerkung über die Dame. Labordette fand, daß sie sehr gut erhalten sei. Maria Blond sagte eine Unanständigkeit, worüber Lucy böse wurde. Man müsse das Alter respektieren, sagte sie. Alle stimmten darin überein, daß man es mit einer ungewöhnlichen Erscheinung zu tun habe. Man stieg wieder in den Wagen. Auf dem Rückwege war Nana sehr schweigsam. Zweimal hatte sie den Kopf zurückgewandt, um einen letzten und allerletzten Blick auf das Schloß zu werfen. Eingelullt durch das regelmäßige Rollen der Wagen vergaß sie Steiner an ihrer Seite und Georges, der vor ihr saß. In der Dämmerung des Abends sah sie eine Erscheinung: Madam d'Anglars, würdig und verehrt, reich an Jahren und Ehren. Abends kehrte Georges zum Essen nach Fondettes zurück. Nana, die ein immer zerstreuteres und seltsameres Benehmen angenommen hatte, sandte ihn nach Hause, damit er seine Mama um Verzeihung bitte. Das gebührte sich, sagte sie in einer plötzlichen Anwandlung von Familiensinn. Sie beschwor ihn sogar, daß er diese Nacht nicht mehr zurückkehren möge. Sie sei ermüdet, und er habe die Pflicht zu gehorchen. Georges, der diese Moralpredigt sehr langweilig fand, erschien gesenkten Hauptes und mit schwerem Herzen vor seiner Mutter. Glücklicherweise war sein Bruder Philipp angekommen, ein großer, munterer Soldat. Dadurch entfiel die Szene, die Georges befürchtet hatte. Madame Hugon beschränkte sich darauf, ihn mit tränenerfüllten Augen stumm zu betrachten, während Philipp, als er erfuhr, um was es sich handle, drohte, daß er ihn bei den Ohren nehmen werde, wenn er es wagen sollte, sich noch einmal bei jenem Weibe zu zeigen. Georges fühlte sich erleichtert bei dieser Wendung der Dinge und dachte, er werde am folgenden Tage gegen zwei Uhr einen Sprung zu Nana machen, um mit ihr die Stelldichein für die Folge zu regeln.
Die Gäste in Fondettes waren indes beim Essen ziemlich zerstreut. Vandeuvres hatte schon seine Abreise angekündigt. Er faßte den Plan, Lucy nach Paris zu entführen; er fand den Gedanken drollig, ein Mädchen zu entführen, das er seit zehn Jahren täglich sah, ohne besonderes Verlangen nach ihm zu tragen. Der Marquis Chouard,
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