Nanking Road
Kinderwagen, Strampelanzüge, Windeln und einen Teddybären. Die Frauen der Nachbarschaft gaben sich die Klinke in die Hand, Deutsche wie Österreicherinnen sammelten Milchflaschen, strickten Lätzchen und winzige Pullover. Jeder wollte einen Blick in den Kinderwagen werfen, wenn das Findelkind aus der Chusan Road ausgefahren wurde.
Gerda spielte mit, so gut sie konnte. Zum ersten Mal verstand ich, warum man China als das Land des Lächelns bezeichnete. Selbst Hus grüßten nach einigen Wochen wieder und schienen sich damit abzufinden, dass wir »weißen Teufel« unsere Nasen eben überall hineinstecken mussten.
Zumal sie das kleine Wunder, das Gerda bewirkte, nicht übersehen konnten: Frau Fränkels Blick wurde klar, ihr Mann kam wieder gern nach Hause, und wenn etwas durch die dünnen Wände der Nachbarwohnung drang, dann war es jetzt das Lachen und Weinen von Gerda oder eine Melodie, die ihre Mutter ihr vorsang.
Es war unser dritter bitterkalter Winter in Shanghai. Heizungen gab es nicht, Waschwasser gefror, sodass viele aufs Waschen einfach verzichteten. Lebensmittel waren rationiert, Strom begrenzt auf zwei Kilowattstunden pro Haushalt für den ganzen Monat. Es reichte für eine matte 15-Watt-Glühbirne in Papas Arbeitsraum, ansonsten beleuchteten und wärmten wir unsere Zimmer ausschließlich mit Kerzen. Jeder kleinste Stummel wurde aufgehoben, eingeschmolzen und wieder verwendet, aber so viele Kerzen wir auch aufstellten, Wärme entstand nicht. Die Fenster im ganzen Haus waren außen wie innen mit einer zentimeterdicken Eisschicht bedeckt und wir konnten nur hoffen, dass die dünnen Scheiben hielten.
Vor allem Papa tat mir leid, der mit blau gefrorenen Händen zu nähen versuchte, seine Bettdecke über den Schultern. Manchmal hörte ich ihn nachts im Zimmer umhergehen, um einen der hartnäckigen Hustenanfälle loszuwerden, die ihn seit einer Erkältung zu Beginn des Winters plagten. Der Arzt hatte lediglich schulterzuckend gesagt, Papa hätte eben früher kommen müssen, jetzt könne er nur noch Tee trinken und aufs Frühjahr warten.
In diesem Winter wurde die Kadoorie-Schule zum einzigen schönen Ort. Die Schulleiterin, Mrs Hartwich, ließ sich einiges einfallen, um vor allem denen, die in den Heimen lebten, ein zweites Zuhause zu bieten. Elwi war in allen Nachmittagsgruppen der Schule bis auf den Fußballclub. Sie sang, sie spielte Theater, sie malte und töpferte und spielte Pingpong. Auch ich meldete mich zur Theatergruppe – erst Elwi zuliebe, dann weil es mir selber Spaß machte. Wir hörten uns gegenseitig unseren Text ab, malten und bastelten Kulissen und unsere Schulaufführung von »Lady Macbeth« blieb lange im Gespräch.
Nach der Theateraufführung gehörte ich endgültig dazu. Ich genoss diese Schule, ihre Freiheiten, ihre Großzügigkeit. Es gab viele hier, die vor der Auswanderung nichts über ihr Judentum gewusst hatten, deren christliche Mütter sich in Shanghai sogar zu Gottesdiensten trafen. In der Kadoorie-Schule spielte das keine Rolle. Einige Mädchen stichelten, aber diese Mädchen waren nicht beliebt. Solche wie sie gab es wohl auf jeder Schule.
Ich ging zur Schule, trug Papas Aufträge aus und wenn ich nach Hause kam, schlüpfte ich sofort ins Bett, um etwas Wärme wenigstens für kurze Zeit mit unter die Decke zu nehmen. So konnte man es aushalten, während direkt vor meinem Fenster Menschen erfroren und ich nacheinander zu Gott, Jahwe und Jesus betete, dass meine Verwandten, wo immer sie waren, ein Dach über dem Kopf hatten.
Erst im März, als die Eisschicht von unseren Fensterscheiben taute, sah ich Frau Kepler wieder. Mit dem Brief von Bekkas Mutter ging ich geradewegs vom Postamt ins Reisebüro. Der Brief war – unter unserer Adresse – an Tante Ruth gerichtet und es war ein kleines Wunder, dass er überhaupt angekommen war, denn die Deutschen hatten den Suez-Kanal vermint.
»Liebe Ruth«, schrieb Frau Liebich, »wir sind so neugierig, wie es dir und Eva in eurer neuen Heimat ergeht!«
»Abgefahren sind sie also …«, murmelte Frau Kepler nach längerem Schweigen.
Ich schluckte an meinen Tränen, ich konnte nicht einmal Ja sagen.
19
Eins musste man den Amerikanern lassen: Sie wussten, wie man einen stilvollen Abgang hinlegte. Sie selber nannten es Truppenverlegung, aber uns, den stummen Schaulustigen, machten sie nichts vor. Hinter ihrer Marschkapelle stapften die US -Marines mit schwerem Gepäck die Nanking Road hinunter zum Hafen, wo zwei Truppentransporter
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