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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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fühlte mich weiter entfernt von Damals als je zuvor.

IV
    DAS ENDE DER WELT
    (1945–1947)

22
    So sicher, wie eins plus eins zwei ergibt, wie ein Hut auf einen Kopf gehört und ein Schuh an einen Fuß, glaubte ich seit Jahren an eine simple Formel: Wenn der Fü tot ist, ist der Krieg aus. Der Tod des Fü und das Ende des Krieges gehörten für mich so untrennbar zusammen, dass ich ein kleines, aber wichtiges Detail dabei völlig übersehen hatte: Wir und der Fü befanden uns in zwei unterschiedlichen Kriegen, und dass er tot war, sich im Bunker seiner Reichskanzlei feige erschossen hatte … bedeutete nichts.
    Auf der Straße wurde geraunt, das war alles. Die Japaner waren nervös und zu allem fähig. Viele Soldaten waren in den letzten Monaten abgezogen worden, um den Vormarsch der Alliierten auf Okinawa aufzuhalten, und man munkelte, dass die Verbliebenen begonnen hatten, Gold, Devisen und geraubte Kunstschätze aus Shanghai in Sicherheit zu bringen.
    Auch die nationalchinesischen Truppen unter Chiang Kai-shek waren mit einem Mal wieder im Spiel, hatten die Mandschurei zurückerobert und arbeiteten sich aus dem Landesinneren in Richtung der Küstenstädte vor. Aber wir durften uns keinesfalls anmerken lassen, dass wir auch nur auf die Idee kamen, die unbesiegbaren Truppen des Tenno könnten in Auflösung sein! Und dazu gehörte, dass die Japaner keinen Wert darauf legten, den Verlust eines Verbündeten an die große Glocke zu hängen.
    Habt ihr gehört, Hitler soll tot sein!
    Habt ihr gehört, Deutschland soll kapituliert haben!
    Habt ihr gehört, ganz Deutschland soll in Trümmern liegen!
    Die Cafés in Hongkou boten einen trübseligen Anblick – weder zahlende Kundschaft noch etwas Nennenswertes anzubieten –, doch an den Tagen, an denen es wenigstens Gerüchte gab, summten sie vor Betriebsamkeit. Allerdings war es hauptsächlich ein Austausch von Nichtwissen und so zogen sich auch diese Tage hin, einer war wie der andere und es lohnte sich nicht einmal, sie in eine Zeit vor und nach dem Tod des Fü einzuteilen. Wäre das Ende des Krieges in Europa nicht von einigen Polen in der Nachbarschaft bestätigt worden, die ihre Radios noch benutzen durften, ich hätte vielleicht wieder aufgehört, daran zu glauben.
    Dabei hatte ich vorübergehend sogar gehofft, die deutsche Niederlage käme viel früher. Im letzten Herbst hatte ich Mischa auf der Straße getroffen und nach einem verlegenen Hallo berichtete er, was er als Letztes von Rainer gehört hatte: Alliierte Truppen waren in der Normandie gelandet, hatten Frankreich und Belgien befreit und marschierten Richtung Ruhrgebiet, während von Osten die Sowjets nach Deutschland vorrückten. Deutsche Offiziere hätten bereits vergeblich versucht, den Fü zu stürzen, um weiteres sinnloses Sterben zu verhindern.
    Trotz dieser erbaulichen Nachrichten wirkte Mischa bedrückt. »Rainer ist weg«, gestand er. »Eingezogen. Jetzt hat es ihn im letzten Moment doch noch erwischt.«
    »Ach«, konnte ich mich nicht enthalten zu sticheln, »es ist keine Ehre für ihn?«
    Mischa sah mich niedergeschlagen an. »Er hat gesagt, er würde lieber leben.«
    Meine Antwort, wenn ich überhaupt eine gehabt hatte, blieb mir im Halse stecken und Mischa und ich verabschiedeten uns ziemlich schnell mit Grüßen an unsere jeweiligen Eltern.
    Was hätte ich zu Rainers Fortgang auch sagen sollen – dass er mir leidtat? Obwohl ich vermutete, dass er zu den heimlich Guten unter den Deutschen gehörte, hatte ich keineswegs vergessen, was mein einziger Blick auf ihn gewesen war: Zur Feier der Eröffnung des Ghettos war er mit den anderen Nazis durch Hongkou marschiert!
    Inzwischen verließen deutsche Familien in Scharen das ehemalige Settlement. Man hörte es von Flüchtlingen, die noch Passierscheine zum Verlassen des Ghettos erhielten und die Veränderungen beobachteten. Die frei werdenden Wohnungen wurden sofort von Chinesen bezogen, die vor den im Norden wieder aufflammenden Kämpfen zwischen Kuomintang und Kommunisten nach Shanghai geflohen waren.
    Auch unmittelbar vor unserer Haustür veränderte sich also die Welt: Shanghai wurde wieder von denen in Besitz genommen, die immer schon hierher gehört hatten. Wenn es überhaupt noch einen »internationalen Sektor« gab, dann konnte jetzt nur noch Hongkou gemeint sein, wo 18000 europäische Juden und 100000 der ärmsten Chinesen von der Welt vergessen worden waren.
    Hätte ich nur wenige Stunden in die Zukunft schauen können, dann hätte ich an

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