Nanking Road
es gab noch ganz andere Pläne, aber die Japaner haben sie verhindert. Du hast ja keine Ahnung, wie viel wir ihnen verdanken.«
»Und was sagt Tashi zu all den toten Chinesen …?«
»China ist mit Japan im Krieg«, erwiderte Judith. »Was hat das mit uns zu tun?«
Ich gab auf. Es hatte keinen Zweck, mit Judith über das Schicksal der Chinesen zu reden. Vielleicht hatte man im Leben, das wir führten, nur Sinn für ein einziges Ziel.
Beinahe hätte ich sie gefragt, ob sie noch ins Gelobte Land wollte, aber im letzten Augenblick biss ich mir auf die Zunge. Ich kannte ja nicht nur die Antwort, ich wusste auch, was die Gegenfrage gewesen wäre, und wahrscheinlich wusste Judith, was ich darauf hätte erwidern müssen.
Wozu also daran rühren? Dass meine Eltern und ich nach Deutschland zurückgingen, würde irgendwann auch das Ende meiner Freundschaft zu Judith bedeuten, aber mit ihrer Einladung hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen war.
»Ich hätte auch gern eine Wohnung nur für mich«, gestand ich. »Wenn ich mir vorstelle, irgendwo die Tür schließen zu können! Das war einer der Gründe, warum ich so gern im Reisebüro war. Dort war es still und Frau Kepler ließ mich in Ruhe.«
»Ich hab mir gedacht, dass du nicht zum ersten Mal dort warst«, erwiderte Judith nur.
»Fandest du die Nanking Road nicht auch wunderbar? Alle Nationen, alle Sprachen, alle Hautfarben … da konnte man als jüdisches Kind auch in ein deutsches Reisebüro gehen.«
»Das ist vorbei, Ziska. Die Nanking Road ist jetzt auch nicht mehr so.«
»Ich weiß«, sagte ich leise. »Vielleicht war sie es schon vorher nicht und ich wollte es nur nicht sehen.«
»Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben«, erwiderte sie. »Du darfst jederzeit herkommen. Die Wohnung steht sechs Nachmittage pro Woche leer, an denen ich im Heim arbeite. Ich lasse dir einen Schlüssel nachmachen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Na hör mal. Sind wir nun wieder befreundet oder nicht?«
Es war ungewöhnlich, eine Freundin zu haben, die man fast nie zu Gesicht bekam, aber dass sie mich in ihrer Wohnung allein sein ließ, war der größte Gefallen, den Judith mir tun konnte. Ich kam, sobald ich Papas Aufträge ausgetragen hatte, verzichtete auf alle Nachmittagsaktivitäten der Schule – selbst auf den Theaterclub – und freute mich den ganzen Tag auf den Moment, in dem ich die Tür hinter mir schließen konnte. Ich kochte Tee, saß völlig ungestört an dem kleinen Tisch am Fenster, machte meine Hausaufgaben, las oder dachte nach. Machte meinen Frieden mit Mischa und Elwi.
Judith kam gegen fünf. Manchmal trafen wir einander noch, aber da ich Tashi nicht über den Weg laufen wollte, war ich meist früher verschwunden. Dass ich in der Wohnung gewesen war, erkannte Judith dann nur daran, dass ich spülte, putzte und wischte.
»Du brauchst nicht zu arbeiten, um die Wohnung zu benutzen!«, wies sie mich zurecht.
»Ich tue es aber gern«, versicherte ich.
Und das war nicht gelogen. Denn für einige Stunden am Tag war es tatsächlich »meine« Wohnung mit allem, was dazugehörte, und zum ersten Mal seit langer Zeit hegte ich behutsam wieder einen Plan: Ich wollte, ich würde mein eigenes Zuhause haben, wenn der Krieg vorbei war! Bett und Schrank und eine kleine Küche, ein Radio und ein Bücherregal, eine Katze wäre schön oder ein Papagei.
Herrliche Aussichten, die den nächsten Plan schon mit sich brachten, denn natürlich brauchte ich als künftige Besitzerin einer eigenen Wohnung einen ordentlichen Beruf. Doch worin war ich gut? Was würde mir so viel Spaß machen, dass ich über viele Jahre gut darin sein würde?
Ich hatte noch keine Ahnung, aber das machte nichts – eigentlich hieß es doch nichts anderes, als dass mir mehr als eine Möglichkeit offenstand.
»Ziska, ich bin begeistert«, erklärte Miss Schmidt, als sie vor den Ferien unsere Zeugnisse verteilte. »Ich weiß nicht, was im letzten Halbjahr mit dir passiert ist, aber deine Leistung hat sich in fast allen Fächern um eine Note verbessert. Weiter so!«
Elwi warf mir einen langen Seitenblick zu, als wir unsere Ranzen packten. »Nun weiß ich, was du den lieben langen Tag machst«, sagte sie. »Pauken, stimmt’s? Muss ich mir Sorgen machen?«
»Überhaupt nicht. Ich denke nur über meine Zukunft nach«, erwiderte ich und ärgerte mich über ihren herablassenden Ton.
»Über deine Zukunft«, wiederholte Elwi gedehnt. »Über eine Zukunft in Deutschland
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