Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
zwei dürre braune Beine in Sandalen und auch in der Bluse aus der achten Klasse hatte ich noch wunderbar Platz. Papa hatte schon mehrfach Flicken auf die aufgescheuerten Ellenbogen gesetzt und ich bemühte mich, die Arme beim Schreiben so sacht wie nur möglich aufs Pult zu legen.
    Jemand schob mir ein Blatt hin und ich setzte gehorsam meine Unterschrift unter das Gesuch, bei diesem Wetter auf die mehrstündige Abschlussarbeit in Englisch zu verzichten. Seit Miss Schmidt uns voller Begeisterung in die politische Kultur fortschrittlicherer Länder eingeweiht hatte, versuchten wir ab und zu vergebens, unser neues Wissen gegen sie zu verwenden. Aber Miss Schmidt warf nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf unsere Petition, bevor sie die Aufgaben an die Tafel schrieb und verkündete: »Wer will, darf die Pause durcharbeiten.«
    Wir waren fast am Ende der vorgesehenen Arbeitszeit angekommen, als sich die Erde ohne jede Vorwarnung mit einem dumpfen Knall hob und senkte. Als wäre das Gebäude für Sekunden aus seinem Fundament gerissen und wieder fallen gelassen worden, fielen Bilder und Karten von den Wänden, flogen Fenster und Türen auf, zerklirrten Scheiben in tausend Splittern auf den Fußboden. Dem Knall folgte ein seltsamer, irrer Laut, halb Atem, halb Schrei, und ich sah meine ganze Klasse wie erstarrt mit offenem Mund, Füller, die über Tische rollten, und mit der nächsten Detonation einen rauschenden Schneesturm von Papier. Die Druckwelle warf mich fast vom Stuhl.
    »Unter die Tische!«, brüllte Miss Schmidt, dumpf wie durch ein Kissen oder als wären wir unter Wasser.
    Wir hatten es oft genug geübt, aber hatte wirklich jemand geglaubt, wir wären vorbereitet? In das ohrenbetäubende Krachen der Bombeneinschläge mischten sich Rufe und Schreie aus unserem und anderen Klassenräumen, während sich Elwi unter dem Tisch an meinen Arm klammerte und mir etwas zuheulte. Die Wucht ihrer Angst drückte meine linke Gesichtshälfte schmerzhaft gegen das Tischbein.
    Im nächsten Moment begann es zu dämmern. Fassungslos versuchte ich zu begreifen, dass ich gestorben sein musste, als etwas Beißendes in meine Kehle drang und unter verzweifeltem Würgen und Husten zuerst meine Ohren wieder frei wurden, und dann, ziemlich überraschend, mein ganzer Kopf. So kühl, als säße ich nicht selbst mittendrin, kam ich zu dem Schluss, dass die Druckwellen der Bomben sämtlichen Staub aufgewirbelt haben mussten, der auf den Straßen Hongkous lag.
    »… mir war das auch nicht egal, das musst du mir glauben, aber was blieb mir denn übrig, was hättest du denn gemacht, es ging doch auch um mein Leben …«
    Ich versuchte vergeblich, der jammernden Elwi meinen Arm zu entwinden, um unter dem Tisch hervorzukriechen. Die Gefahr zu ersticken erschien mir mit einem Mal wesentlich akuter als die, von einer Bombe getroffen zu werden.
    »Vergib mir, Ziska, und sag, dass du mir wieder gut bist, bitte, bitte, vergib mir und geh jetzt nicht weg!«
    Ich riss an meinem Arm. »Wir müssen hier raus!«, schrie ich Elwi an. »Halt dich an mir fest, aber komm endlich!«
    Das half. Augenblicklich hörte sie auf zu heulen und krabbelte, immer noch an mich geklammert, mit mir unter dem Tisch hervor. Mittlerweile taumelten auch andere hustend und halb blind in Richtung Tür.
    Wir lagen auf dem Rasen, japsend und keuchend, während die Gewalt um uns herum den Boden erzittern ließ. Elwi ließ meinen Arm los, krümmte sich zur Seite und kotzte etwas Staubiges auf die Wiese.
    Lehrer krochen zwischen liegenden und hockenden Schülern umher, trösteten und verarzteten kleine Wunden, aber ernsthaft verletzt war niemand. Wir alle sahen aus wie mit schmutzigem Mehl gepudert. Als die Angriffswelle verebbt war, senkte sich eine nahezu gespenstische Stille über die Stadt. Dann hörten wir erst eine, dann eine zweite und dritte Sirene aufheulen.
    Vollalarm! Kamen die Flugzeuge etwa wieder? Eine staubbedeckte Frau mit wirren Haaren blieb vor uns stehen, ich erkannte Miss Schmidt.
    »Los, in die Schutzgräben, bevor es wieder losgeht«, krächzte sie. »Jeder der Älteren nimmt einen Kleinen an die Hand!«
    Elwi jammerte: »Oh Gott, sie werden doch nicht wiederkommen? Das kann doch nur ein Irrtum gewesen sein! Sie werden doch nicht absichtlich unser Ghetto bombardieren!«
    Bedauernd sah ich an mir herab. Meine Bluse würde ich nur noch als Putzlappen verwenden können. Der Ärmel, an den Elwi sich geklammert hatte, war mitten durchgerissen, die untere Hälfte

Weitere Kostenlose Bücher