Nanking Road
aber ich drehte mich einfach um und ließ ihn stehen.
Wieder einmal. Ich musste seufzen. Wenn ich versuchte, mich auf diese Weise von jemandem zu trennen, führte es erfahrungsgemäß nur dazu, dass wir uns garantiert wiedersahen! Aber es war ein gutes Gefühl, mich wenigstens gewehrt zu haben.
Als ich hastige Schritte hinter mir hörte, ging auch ich schneller. Dass Onkel Victor meinetwegen seinen Stand verließ, war das Letzte, was ich erwartet hatte. Wenn er zurückkehrte, würde nichts mehr auf seiner Decke liegen.
Mein Arm wurde gepackt, ich drehte mich ungeduldig um. Na schön, ich hatte noch mehr zu sagen!
Nein, ich war nie in Mischa verliebt, er war wichtiger als das. Er war mein Freund, mein Vertrauter, er ist nicht zu ersetzen. Und trotz allem glaube ich nicht, dass Elwi genau dieselbe Stelle ausfüllen wird wie ich. Der Verlust ist nicht meiner allein!
»Hast du Lust auf einen Tee?«, fragte Judith. »Ich wohne gleich um die Ecke.«
»Schau nicht so«, sagte sie. »Ich weiß, dass es Luxus ist.«
Aber ich konnte nicht aufhören zu starren. Das Zimmer war etwa zehn Quadratmeter groß, eine Wand bestand fast vollständig aus einem großen, hellen Fenster. Ein Bett, ein schmaler Kleiderschrank, ein viereckiges Tischchen mit zwei Stühlen und ein Ofen teilten sich den Raum; die Kohle befand sich in einem Eimer, der fast bis zum Rand gefüllt war.
Und Judith hatte all dies für sich allein.
Man wusste gar nicht, was man als Erstes fragen sollte. Wo ihre Eltern geblieben waren, wo sie arbeitete, um sich das Zimmer leisten zu können. Warum sie so seltsam schaute, als ob sie mir etwas mitteilen wollte, aber nicht wusste, wie.
Plötzlich erinnerte ich mich an den Japaner, mit dem ich sie gesehen hatte, und fühlte einen kleinen Stich der Enttäuschung und Verwirrung.
»Mein Freund heißt Tashi«, sagte Judith, um mir zuvorzukommen. »Er arbeitet in der Funkstation an der Ward Road. Natürlich übernachtet er hier, aber ansonsten ist es meine Wohnung.«
»Und wo arbeitest du?«
»Im Heim an der Seymour Road, aber sie können mich nicht bezahlen. Tashi kommt für alles auf, was ich brauche. Wenn du so willst, leistet auch er seinen Beitrag, um Juden zu helfen«, fügte sie etwas spöttisch hinzu.
»Und deine … deine Eltern?«, fragte ich zögernd. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich darauf überhaupt eine Antwort haben wollte.
»Meine Mutter ist im Settlement geblieben.«
»Ach, durfte sie das? Ihr seid doch auch erst 1938 gekommen.«
»Mein Vater ist Deutscher«, sagte Judith ruhig.
Mir verschlug es die Sprache.
»Er hat sich damals von Mutter scheiden lassen, aber uns beide in Sicherheit gebracht. In Shanghai sind wir, weil es weit genug weg ist von Deutschland und Verwandtschaft meines Vaters hier lebt. Parteigenossen, Hitlerjungen, alles dabei. Mein Onkel hat erwirkt, dass Mutter im Settlement bleiben durfte, aber ich will bei meinem Volk sein, wie du dir vorstellen kannst.«
Sie sah mich herausfordernd an. Als mir noch immer keine Antwort einfiel, fügte sie hinzu: »Ich kann meinem Vater keine Vorwürfe machen, er hat sich anständig verhalten – unter den Umständen. Aber ich bin alles andere als stolz darauf, eine halbe Deutsche zu sein, und nur froh, dass ich endlich allein bin. Ich wäre dir dankbar«, ergänzte sie, »wenn du das alles für dich behalten würdest. Komm, setz dich, ich mache uns Tee!«
Sie zog einen der beiden Stühle zurück, aber über ihr Gesicht flackerte zum ersten Mal ein Funken Besorgnis, als ich stehen blieb.
»Du kündigst unsere Freundschaft, weil du mich aus einem deutschen Laden kommen siehst«, fragte ich ungläubig, »und du selbst lebst bei Deutschen, bist praktisch eine von ihnen?«
»Ich hatte keine Wahl, das ist ein großer Unterschied«, sagte Judith mit blitzenden Augen. »Und ich bin keine von ihnen. Sag das nie wieder!«
»Keine Sorge«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen, aber Judith hielt mich fest.
»Ich habe auch keine Freundin«, sagte sie leise.
Der Tee war besser als unserer, den wir auf dem Markt erstanden, aber ich fragte nicht, woher Judith ihn hatte – ich vermutete, dass er wie alles andere von Tashi stammte. Dessen Name tauchte in jedem zweiten ihrer Sätze auf und meine Nachfrage brachte sie nicht einmal in Verlegenheit. Judith fand überhaupt nichts dabei, mit einem der Besatzer zu »gehen«.
»Gegen uns Juden haben sie nichts«, erklärte sie bedeutungsvoll. »Das Ghetto ist eine rein deutsche Idee. Glaub mir,
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