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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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lag wahrscheinlich noch unter dem Tisch.
    Ich hätte alles gegeben für einen Schluck Wasser, um Staub und Dreck aus meinem Mund zu spülen. Ich hörte meine Zähne knirschen, während ich mit Elwi sprach.
    »Ich haue ab! Ich muss sehen, was mit meinen Eltern ist.«
    »Warte, ich komme mit!«
    Bevor wir uns davonmachten, schnappten wir uns noch, wie befohlen, zwei jüngere Schüler, um sie in Sicherheit zu bringen. Mein Schützling war zehn und hieß Alfred.
    »Jetzt kannst du mich loslassen!«, befahl er, kaum dass wir uns zehn Meter von Miss Schmidt entfernt hatten. »Wenn ich Glück habe, finde ich Schrapnell!«
    Er riss seine Hand aus der meinen und verschwand. Elwis »Kleiner« schrie sie an und trat ihr heftig auf den Fuß, bis sie ihn endlich losließ. Dann stürzte er unternehmungslustig hinter Alfred her, gefolgt von Elwi und mir. Miss Schmidt protestierte nicht, wahrscheinlich glaubte sie, wir wollten die beiden einfangen.
    Aber die Jungen hatten wir schon an der ersten Straßenecke vergessen. Über Hongkou stand eine Rauchsäule. Beißender Qualm und Staub erfüllten die Luft; auf in graugelben Dunst getauchten Straßen tasteten sich Menschen wie blind vorwärts. Aber was hieß Straßen …? Die umliegenden Gassen, die wir so gut gekannt hatten, waren verschwunden. Häuser brannten oder waren wie Kartenhäuser in sich zusammengestürzt, Krater klafften mitten auf dem Weg und überall lag loses Kopfsteinpflaster, das wie Wurfgeschosse umhergeschleudert worden sein musste. Dazwischen Tote oder ihre Gliedmaßen. Einem Chinesen, der auf uns zu torkelte, steckte ein großes Stück noch qualmenden Schrapnells in der Wange und er schien es nicht einmal zu bemerken.
    Erst als die Sirenen verstummten, hörten wir die Schreie. Sie kamen von überall – von den Dächern, aus brennenden Häusern, aus Trümmerhaufen. Von Passanten, die sich Kommandos zuriefen: »Hier lebt noch einer! Ich brauche Hilfe!«
    Steine klackerten, als sofort jemand zugriff. Weitere Stimmen – deutsch, englisch, chinesisch. Vor dem Hydranten gegenüber eines brennenden Hauses bildete sich eine Menschenkette, Kinder rannten mit weiteren Eimern hinzu, jemand schleppte im Laufschritt eine Leiter an uns vorbei und lehnte sie an ein Haus, aus dem eingesperrte Bewohner augenblicklich zu klettern begannen. Eine Schar chinesischer Nonnen in curryfarbenen Kutten stemmte mit vereinten Kräften einen Balken in die Höhe und scharrte mit bloßen Händen Verschüttete aus darunterliegenden Trümmern.
    Ein Stück weiter war die Straße fast unversehrt und Rikschakulis hatten Platz, um Verletzte, die auf Türen und Brettern herbeigetragen wurden, in ihre Fahrzeuge zu laden. Aber für viele kam die Hilfe bereits zu spät. Ich sah, wie eine Chinesin, die schon auf einer Trage gelegen hatte, mit Handzeichen für tot erklärt und beiseitegelegt wurde, um einen noch lebenden Verwundeten in die Rikscha zu setzen. Ein kleiner Junge, der zu der Frau gehörte, ging stumm neben ihr in die Hocke.
    »Worauf wartet ihr, Mädels, packt mit an!«, brüllte ein Mann mir ins Gesicht.
    Es war, als würde ich aus einem Traum geweckt. Bis zu diesem Augenblick war ich wie auf fremden Füßen gestolpert, merkte zwar, dass Elwi an meinem Arm hing, hörte uns beide auch husten und schwer atmen, aber die ganze Zeit kam es mir vor, als wäre ich es gar nicht selbst, die durch die geisterhafte Szenerie taumelte. Erst als der Mann mich anschrie, wurde mir bewusst, dass ich von anderen zu sehen war, dass ich tatsächlich hier war, dass alles, was ich sah, genau so geschah.
    Im nächsten Moment sah ich mich auf die Knie fallen und spürte die scharfen kleinen Pflastersteine unter meinen Händen.
    »Werft sie dort auf den Haufen!«, kommandierte der Mann und ich fühlte meine Bewegungen schneller werden, mir gehorchen. Merkte, dass Elwi neben mir ebenfalls zu graben begonnen hatte und dass unter dem Steinhaufen Bewegung war.
    Es dauerte nicht lange. Erst sah ich einen Arm, der sich schwach hob, eine Hand, die sich öffnete und schloss, als wollte der Besitzer ausprobieren, ob er noch lebte. Schon legten wir den Oberkörper und ein blutverschmiertes Gesicht frei, über das Tränenspuren liefen.
    »How muchee?«, fragte der Chinese schwach und setzte sich auf.
    Der Mann glaubte, er müsse für unsere Hilfe bezahlen! Es gab Dinge in diesem Land, die würde ich nie verstehen.
    Nachdem wir dem Verletzten aufgeholfen hatten, warf ich den Rikschakulis, die sich um die Verwundeten drängten,

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