Nanking Road
diesem 17. Juli einiges anders gemacht. Kleinigkeiten nur, die Hölle dieses Tages hätte ich nicht abwenden können, aber ich hätte zum Beispiel nur zwei Minuten früher aufstehen müssen, um Gerda und ihren Eltern mehr als nur ein flüchtiges »Morgen!« zurufen zu können, als ich die Treppe hinab zur Schule hetzte.
Fränkels gehörten zu denen, die nach der Einrichtung des Ghettos von einem Tag auf den anderen ihren Lebensunterhalt verloren hatten. Sein Taxi hatte Herr Fränkel verkaufen müssen und obwohl die drei von dem Erlös einige Zeit hatten leben können, hatte die Inflation längst dafür gesorgt, dass von dem Geld nichts mehr übrig war. Wie so viele andere standen unsere Nachbarn nun täglich in einem der Heime um Essen an, und wie so viele andere mussten sie immer früher aus dem Haus, um nicht leer auszugehen. Seit auch die Japaner aus Shanghai verschwanden, die vielen Flüchtlingen Arbeit gegeben hatten, stieg die Zahl derer, die auf Armenspeisung angewiesen waren, rasant an.
Nein, es hätte nichts geändert, wenn ich Fränkels aufmerksamer gegrüßt hätte. Aber Morgen zu rufen, ausgerechnet.
Ich seufzte, als ich auf die Straße trat und die Hitze mir entgegenschlug wie eine Wand. Trotz der frühen Morgenstunde zeigte das Thermometer fünfunddreißig Grad im Schatten und die Luftfeuchtigkeit betrug hundert Prozent. Es waren nur wenige Minuten bis zur Schule, die einige Schritte hinter der Ghettogrenze lag, aber ich wusste jetzt schon, wie zerzaust und verschwitzt ich dort ankommen würde. Eigentlich lohnte es sich gar nicht mehr, sich morgens zu waschen und zu kämmen.
Für die kleine Gasse, die quer zur Chusan Road verlief und durch die ich seit Jahren jeden Morgen zur Schule ging, hatte ich keinen Blick. Nicht für die vielen Fenster, deren Verdunkelungspappen seit Beginn der Fliegeralarme auch noch den letzten Rest von Licht aus den Wohnungen aussperrten. Nicht für die Bewohner, die ihre Töpfe und Wasserkannen über die Straße trugen, Schmutzeimer in die barbarisch stinkenden Abwasserrinnen entleerten oder resigniert nach den streunenden Katzen, Hunden und Ratten traten, von denen es im Ghetto wimmelte. Chinesische Kinder stellten Fallen auf, um sie zu fangen und zu braten, aber ich konnte nicht feststellen, dass die Zahl der Tiere, die in den Abfällen wühlten, abnahm.
Hätte ich näher hingesehen, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass die Tiere unruhig waren. Minuten bevor die Sirenen einen Luftalarm ankündigten, konnte man oft beobachten, dass Katzen sich zu verstecken begannen, Hunde hysterisch wurden und die Singvögel in ihren Käfigen vor den Häusern wie wild gegen ihre Gitterstäbe flatterten. Aber an diesem Morgen bemerkte ich nichts – weil es zu warm war, um Augen für meine Umgebung zu haben, oder weil auch die Tiere zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts spürten.
Tags zuvor war ich durchaus wachsam gewesen, wie wohl alle in der Stadt, denn zwei Tage zuvor waren zum ersten Mal Bomben auf Hongkou gefallen. Das Ghetto hatten die Amerikaner, wie erwartet, verschont, aber der Angriff hatte vom frühen Morgen bis spät in die Nacht gedauert, Straßen und Häuser zum Erzittern gebracht und vor allem in den Uferstraßen Schäden angerichtet. Das Dröhnen der Flugzeuge und das Knattern der Flugabwehrgeschütze hallte noch lange nach, als steckte das Echo des Krieges in allen Mauern.
Aber an diesem Morgen blieb es ruhig, waren Mensch und Tier viel zu betäubt von der Hitze, um sich vorzustellen, dass jemand Energie für einen Angriff haben könnte. Ich war froh, als ich die Schule erreicht hatte und mich mit einem matten Plumps auf meinen Platz neben Elwi fallen lassen konnte.
»Puh, warum waschen wir uns eigentlich noch?«, fragte sie zur Begrüßung und wedelte mit ihrem Fächer, um mich wiederzubeleben.
Nur wenig erinnerte noch an die alte Elwi. Ihr einst streng gescheiteltes Haar trug sie offen, die Augenbrauen zupfte sie zu einem schmalen Strich, der sich in einen Bumerang verwandeln konnte, wenn sie sich ärgerte. Sie trug Lippenstift und füllte Kleider aus, die mindestens drei Nummern größer waren als meine – nicht, dass wir solche Intimitäten noch besprachen.
Dass ich selbst mich weiterentwickelte, konnte ich unterdessen weder mit kritischem noch mit wohlwollendem Blick beobachten. Mein Haar band ich wie die Kleinsten zu einem Pferdeschwanz, weil es bei der Hitze einfach praktischer war. Aus dem blauen Faltenrock, der mir bereits das dritte Jahr passte, staken
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