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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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würde ich aber lieber nicht nachdenken wollen.«
    Ich lächelte, obwohl ihre Bemerkung mich traf. »Meine Zukunft wird gut sein, egal wo«, meinte ich zuversichtlich und stand auf.
    Das ließ sie verstummen. Ich war selbst überrascht, wie überzeugt meine Worte klangen. Viel überzeugter, als ich geglaubt hatte zu sein.
    »Schöne Ferien, Elwi«, sagte ich aufrichtig. »Wir sehen uns im August.«
    »Wenn wir dann noch leben«, murmelte sie.
    Aber ich tat, als hätte ich ihren letzten Satz nicht gehört. Darüber, dass meine vielversprechende Zukunft in wenigen Tagen schon zu Ende sein konnte … nein, darüber mochte ich in diesem Sommer wirklich nicht nachdenken.
    Seit die Alliierten die Japaner in breiter Front zurückschlugen und auf dem eigenen Territorium angriffen, erlebten wir fast täglich Fliegeralarm. Von unserem Innenhof, den wir im Notfall schneller in Richtung Straße verlassen konnten als die Wohnung, sahen wir die Geschwader in großer Höhe vorüberfliegen. Meist hörte man nur ein leises Brummen der Motoren, aber einige Male gingen Bomben auch über den Docks von Wusong nieder, einem Ort, der nur vierzehn Meilen entfernt lag und in dem sich ein Internierungslager für kriegsgefangene alliierte Soldaten befand. Es gab zwei, drei dumpfe Schläge, dann verwandelten sich die Explosionen in drohendes Donnergrollen, wie an jenem Morgen vor zweieinhalb Jahren, als Shanghai angegriffen worden war.
    Große Angst hatte niemand aus unserem Haus. Warum sollten die Amerikaner uns angreifen? Natürlich konnte sich aus Versehen einmal eine Bombe losklinken, aber wenn diese ausgerechnet uns traf … dann war es Schicksal, oder etwa nicht?
    Vorsorglich packten wir Papiere, Kleidungsstücke und die paar Andenken, die man noch als unseren wichtigsten Besitz bezeichnen konnte, in Taschen, die stets an derselben Ecke des Zimmers standen, damit man sie auch im Dunkeln fand. Wir griffen danach, wenn wir, nachts noch im Schlafanzug, bei Alarm in den Hof eilten. Aber nach kurzer Zeit machte sich nicht einmal die kleine Gerda Fränkel mehr Sorgen, wenn die Sirene erklang. Wir waren nur Zuschauer in diesem Krieg, und wie immer mussten wir eben sitzen und abwarten.
    Zufrieden lehnte Gerda im Arm ihrer Mutter und beobachtete die Kinder der Hus, die von der gegenüberliegenden Hauswand zu ihr hinübergrinsten. Sie und die beiden jüngsten Hus spielten oft und selbstverständlich miteinander, aber manchmal lag jetzt ein unergründlicher, wie gebannter Ausdruck in Gerdas Gesicht, als stünde sie vor einem großen Rätsel.
    In diesem Sommer, während Fränkels, Hus und wir Tag und Nacht gemeinsam die Entwarnung abwarteten, schien Gerda zum ersten Mal aufzufallen, dass sie den Kindern der Hus stärker ähnelte als ihrer eigenen Familie, und ich hoffte für sie, dass sie dieses Rätsel würde lösen können, bevor die kleinen Hus anfingen, freche Bemerkungen zu machten.
    Da Gerda und ich miteinander Geburtstag feierten, fühlte ich mich fast wie ihre Patentante und bereitete mich insgeheim auf Fragen vor.
    Deine Eltern haben dich gefunden, wie einen wertvollen Schatz oder die Antwort auf ein Gebet …
    Wenn ich ihr zufriedenes kleines Gesicht beobachtete, fragte ich mich, was Jakob zu seiner Schwester sagen würde, und war stolz auf sie und beinahe traurig, weil ich bei der ersten Begegnung der beiden nicht mehr dabei sein würde. Ich überlegte, was ich Bekka über Gerda schreiben würde, wenn wir uns noch schrieben, ja, was Bekka denken würde, wenn sie uns alle in diesem Augenblick sehen könnte. Meine Mutter, die grau und schmal geworden war, meinen Vater, der vor Müdigkeit immer wieder zusammensackte. Mich mit tropfender Nase und in einem Schlafanzug, der an mir klebte, als hätte ich darin gebadet. Wenn wir nachher aufstanden, würden Schweißpfützen am Boden zurückbleiben.
    Die Chinesen um uns herum, die leise schnatternden, gänzlich unbekümmerten Stimmen, die von Dächern und benachbarten Hinterhöfen zu uns drangen. Den Qualm offener Feuerstellen, das Klirren von Teegeschirr, die Schatten der Hauswände, die uns umgaben, und den schmalen Streifen Himmel über unseren Köpfen, in dem das Brummen der Flugzeuge in Wellen kam und ging, kam und ging.
    Würden wir uns überhaupt erkennen, wenn wir uns wiedersahen? Würden wir uns etwas zu sagen haben? Wo würde ich anfangen, Bekka von unserem Leben in China zu erzählen?
    Ich schloss die Augen, spürte die feuchte Nachtluft, die warmen Steine unserer Hauswand im Rücken, und

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