Nanking Road
einen scharfen Blick zu. Ich konnte nicht erkennen, dass sie bezahlt wurden, aber das hieß nicht, dass sie nicht am Ende der Fahrt – im Krankenhaus – die Hand aufhielten.
»Ziska, ich glaube, wir haben jemanden gerettet!«, hauchte Elwi entzückt.
»Na, ich weiß nicht. Wenn wir nicht gewesen wären, hätte ihn ein anderer …«, setzte ich an, als ein Schrei ertönte: »Ziska! Gott sei Dank!«
Mein Vater riss mich in seine Arme. »Ich war auf dem Weg zu euch«, stammelte ich, »aber hier wird überall Hilfe gebraucht.«
»Nicht nur hier. Die Tangshan Road ist zerstört, die Leute graben mit bloßen Händen …«
Er brach ab, als er Elwis und meine Hände sah. »Wo ist Mamu?«, fragte ich bang.
»Bringt Oma Hu ins Krankenhaus. Die war auf dem Dach und ist vor Aufregung die Treppe hinuntergefallen. Beide Arme sind gebrochen, wenn nicht noch Schlimmeres. Kommt, Kinder, wir müssen sehen, wo wir helfen können!«
Erst jetzt sah ich, dass er die Armbinde der Bao Jia trug, die ihn zum Erteilen von Anweisungen berechtigte. Andere Männer hatten dieselbe Idee gehabt und an vielen Stellen bereits das Kommando übernommen. Wenig später fanden Elwi und ich uns in einer Eimerkette wieder, um zu verhindern, dass das Feuer in einem Geschäft auf die umliegenden Häuser übergriff. Deren Besitzer trugen derweil schon einmal ihren Hausrat auf die Straße, was sich leider als realistische Einschätzung der Lage herausstellte, denn nach einer halben Stunde mussten alle Helfer vom Dach herunter und das Vorhaben aufgeben.
Die Chinesen verbeugten sich vor uns, während hinter ihnen ihre Häuser abbrannten. Ich faltete die Hände und verbeugte mich ebenfalls, obwohl ich hätte weinen mögen. Als einer der nun obdachlosen Hausbewohner uns winkte, ihm zu folgen, gingen Elwi und ich und einige andere mit und bekamen in einem Wasserladen etwas zu trinken.
Es tat gut, für einen Augenblick zu verschnaufen, obwohl ich fast aufgeschrien hätte, als meine zerschrammten, zerschundenen Hände sich um den heißen Becher legten.
»Habt ihr vom Seward Road-Heim gehört?«, fragte ein Mann gedämpft.
Jemand nickte bedrückt. Mein Herz setzte aus.
»Was ist mit dem Seward Road-Heim?«, fragte ich tonlos.
»Es soll einen direkten Treffer bekommen haben. Ob da noch jemand am Leben ist?«
Die Zeit stand still. Die dreck- und schweißverschmierten Gesichter der Helfer, der alte Chinese mit seiner Wasserkelle, das Brodeln im Kessel zwischen uns. Alles gefror.
Vor mir tauchte das entsetzte Gesicht von Elwi auf. »Ziska, kennst du jemanden im Seward Road-Heim …?«
Ich stellte den geliehenen Becher ab und stürzte aus dem Laden. Spürte kaum meine Beine, während ich rannte; die versengte Luft brannte sich tief in Kehle und Lunge. Dabei wäre ich vor Angst vor dem, was mich erwartete, am liebsten in die Gegenrichtung geflüchtet.
Nicht sie, bitte nicht sie!, war alles, was ich denken konnte.
Keuchend blieb ich stehen und traute meinen Augen nicht. Das Seward Road-Heim war unversehrt, es diente als Versorgungsstation für die Verletzten der umliegenden Häuser. Judith kniete am Boden und verband die Wunde am Oberschenkel eines Mannes mithilfe irgendeines Wäschestückes, das eine Frau neben ihr in Streifen riss.
Als sie mich reglos vor ihr stehen sah, rief sie ungeduldig: »Ziska, was ist, mach dich nützlich – und du ebenfalls!«
Kaum nahm ich Elwi wahr, die hinter mir hergelaufen und sogar kurz nach mir angekommen sein musste. Ihr Atem ging wie eine Trillerpfeife.
»Ich dachte, du seist tot!«, stammelte ich.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil das Seward Road-Heim …«
Ich presste die Hand vor den Mund. Tränen sprangen zwischen meinen Fingern hindurch. Judith stand auf und konnte mich gerade noch auffangen, bevor meine Knie nachgaben. Den Schrecken des Bombenangriffs hatte ich einigermaßen standgehalten, nun warf mich die Erleichterung beinahe um. Meine Eltern lebten, Judith lebte! Nichts anderes zählte.
Als Judith und ich uns wieder losließen, war Elwi verschwunden.
»Es ist ein Heim in der Dent Road getroffen worden«, sagte Judith und wischte ihre Tränen ab. »Es hieß The Safe Place. Schlafräume, Essensausgabe … die Leute hatten überhaupt keine Chance, die Bombe muss mitten zwischen sie gefallen sein.«
Ich sah mich um. »Wo kann ich hier helfen?«
»Versuch’s mal in der Küche. Es werden sämtliche Lebensmittel aus der Nachbarschaft zusammengetragen, damit wir für alle kochen können.«
Ich bahnte
Weitere Kostenlose Bücher