Nanking Road
Uniformen auf, überfluteten die Stadt mit Dollars, Zigaretten und Musik und waren Jäger und Sammler auf der eifrigen Suche nach Souvenirs, die sie in die Heimat schicken konnten. Trödler boten enorme Preise für Orden und Andenken aus sämtlichen Kriegen, Jazz drang aus neuen Clubs am Bund und am Broadway. Kinos zeigten wieder amerikanische Filme, und Zeitungen und Wochenschauen aus der ganzen Welt trafen ein, um uns auf den letzten Stand zu bringen.
Wir konnten wieder Briefe versenden. Sie wurden frankiert, gestempelt und auf den Weg geschickt, man konnte zusehen, wie die Postsäcke am Kai verladen wurden und die Schiffe sich auf den Weg über die Ozeane machten. Und sobald der Rauch ihrer Schornsteine sich auflöste, begann man auf Antwort zu warten – und sich gegen die Ahnung zu wehren, dass die meisten Briefe ihr Ziel nicht mehr erreichen konnten.
Denn mit den Zeitungen und Wochenschauen waren die Bilder gekommen. Berge zum Skelett abgemagerter Leichen, Berge von Schuhen, von Brillen, von Koffern. Endlose Reihen immer gleicher flacher, hässlicher Baracken hinter Stacheldraht. Öfen und Schornsteine, Bahngleise, die an Rampen endeten, und verlassene Viehwaggons mit zerkratzten Wänden.
Das Grauen, das diesen Bildern vorausgeeilt war, war unvorstellbar geblieben, nun wurde es noch unfassbarere Wirklichkeit. Und trotz des vielstimmigen Gewirrs auf den Straßen, trotz all der neuen Geschäfte und Pläne und unserer satten Bäuche lag eine dumpfe, wie betäubte Glocke über der Stadt, die das Atmen schwer machte, während die Menschen voller Angst erst auf Nachrichten, dann auf ein Wort, am Ende nur noch auf das kleinste Zeichen von zu Hause warteten.
»Sie haben die Listen ausgehängt!«
Mein Vater kam die Treppe hinaufgestürmt, atemlos, obwohl es nur die wenigen Stufen von Löws bis zu uns gewesen waren, blieb im Türrahmen stehen und schwankte leicht.
Mamu und ich standen auf. Es war früher Morgen, eigentlich mussten wir zu unserem neuen Job in der UNRRA -Kleiderkammer, aber nun, da der Tag gekommen war, musste das Leben eben angehalten werden. Niemand würde etwas anderes erwarten, alle waren auf dem Weg; das Rote Kreuz hatte dieselben Listen vorausschauend an verschiedenen Stellen der Stadt ausgehängt und auch die Erste-Hilfe-Wagen standen schon bereit.
Rücken an Rücken drängte sich vor zwei Hauswänden. Jäh fühlte ich Erleichterung. Von Millionen Toten war die Rede gewesen – aber passten Millionen Namen auf die Länge von nur zwei Hauswänden? Die Zahl der Opfer musste weit geringer sein, als wir befürchtet hatten!
Aus der Menge kam Judith auf uns zu und gab meinen Eltern die Hand. »Viel Glück«, sagte sie leise.
»Und du?«
»Ich habe geholfen, die Listen aufzuhängen, und da habe ich es schon gesehen. Von unseren Verwandten steht kein Einziger darauf.«
Endlich begriff ich. Was an zwei Hauswände passte, waren die Listen der Überlebenden, nicht der Toten.
»Die Listen sind alphabetisch geordnet«, erklärte Judith. »Name und letzter Wohnort, bei manchen das Lager, aus dem sie befreit wurden. Und wenn deine Verwandten nicht auf der Liste stehen, heißt das nicht automatisch schon, dass sie tot sind. Es heißt erst einmal nur, dass sie nicht zu den Überlebenden der Lager gehören.«
Ich nickte, obwohl ihr Blick sie Lügen strafte. Wir hatten bereits gehört, wie gründlich die Nazis Häuser nach Juden durchkämmt hatten, dass auf das Verstecken von Juden die Todesstrafe gestanden hatte und auf das Denunzieren von Juden eine Belohnung.
Aus der Menge, die sich vor den Hauswänden drängte, brachen sich die Ersten weinend den Weg ins Freie, andere rückten nach, die Reihen schlossen sich. Weiter hinten ein Aufschrei: »Ernst! Ernst! Ich hab sie, ich hab die Liesel!«
Meine Mutter wurde blass. »Wollen wir später wiederkommen? Das hat doch keinen Sinn in dem Gedränge.«
Judith deutete mit den Augen eine Richtung an und sagte leise zu mir: »Der Buchstabe B beginnt etwa dort.«
Die Menschenmenge verlor mittlerweile alle Zurückhaltung. Es wurde gedrängt, geschubst und geschimpft, viele weinten oder schienen der Ohnmacht nahe, wollten ihren Platz aber unter keinen Umständen aufgeben. Über Hüte und Schultern hinweg erkannte ich Seite um Seite nebeneinander an der Hauswand hängen und hörte Leute einander anschreien, die Hände wegzunehmen, damit andere auch etwas sehen konnten. Einige gehorchten, die meisten aber ließen sich nicht beirren und ihre Hand Zeile um Zeile
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