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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Türrahmen trat, zögerte, wieder stehen blieb, nahm ich allen Mut zusammen.
    »Frau Kepler, wovon haben Sie vorhin gesprochen? Was ist in den Lagern passiert?«
    Sie setzte sich mir gegenüber und holte tief Luft. Auch sie musste sich ihre Worte überlegt haben, während sie im Hinterzimmer war.
    »Es gab solche und solche Lager. In einigen mussten die Juden arbeiten, aber blieben am Leben, solange sie sich nützlich machen konnten. In anderen wurden sie gleich nach der Ankunft umgebracht. Männer, Frauen, Kinder, erst aus den besetzten Gebieten, später auch aus Deutschland. Diese Lager dienten keinem anderen Zweck, als Juden, Zigeuner und andere unerwünschte Personen zu ermorden.«
    Ich wollte nach der Tasse greifen, die direkt vor mir auf dem Tisch stand, aber ich konnte meine Hand nicht heben.
    »Es ist von Hunderttausenden Toten die Rede. Die meisten Vernichtungslager befanden sich im besetzten Osteuropa. Es sieht nicht gut aus für deine Verwandten, Ziska. Es tut mir leid, dass ausgerechnet ich es dir sagen muss.«
    Plötzlich rollte eine Träne Frau Keplers Wange hinab, sie verzog das Gesicht und drückte eine Hand vor den Mund. Ich saß wie gelähmt, ungläubig und zu Eis gefroren, nur ein Anflug von Empörung durchschoss mich, dass sie weinen konnte und ich noch nicht.
    »Das konnte doch niemand wissen!«, klagte Frau Kepler. »Das Volk hat geglaubt, was die in Berlin gesagt haben: dass es Arbeitslager sind, dass die Juden in den Osten umgesiedelt werden. Die Juden haben es doch selbst geglaubt, sonst wären sie doch niemals freiwillig in die Züge gestiegen!«
    Mein Mund öffnete sich und wiederholte ein Wort: »Freiwillig?«
    Frau Kepler verstummte. Sie wischte ihre Träne ab. »Gewehrt hat sich jedenfalls keiner, soweit ich weiß.«
    Ich wäre gern aufgestanden und gegangen, aber eine Welle aus Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen überspülte mich, und ich musste mich wieder setzen.
    »Du musst mir einfach glauben«, wiederholte Frau Kepler.
    Ich nickte schwach. Sie war Tausende Kilometer von Europa entfernt gewesen; es war nicht schwer zu glauben, dass sie von Vernichtungslagern nichts gewusst hatte.
    »Und ich habe euch geholfen!«, fügte sie leiser, aber mit Nachdruck hinzu.
    Auch das stimmte. Es war nicht ihre Schuld, dass Onkel Erik nicht am Ziel angekommen war.
    »Ich wäre euch dankbar, wenn ihr das bestätigen würdet«, murmelte Frau Kepler.
    »Sie haben uns geholfen«, bestätigte ich.
    »Nein, ich will sagen … könnte dein Vater es mir schriftlich geben? Wenn ich nach Deutschland zurückgehe, werden die Alliierten Fragen stellen.«
    Ich fragte: »Haben Sie einen Zettel?«
    »Ja, aber mir wäre lieber, wenn dein Vater als Erwachsener …«
    »Und einen Stift«, unterbrach ich.
    Frau Kepler stand auf, kam mit Schreibblock und Stift an unseren Tisch zurück und sah mir erwartungsvoll zu.
    Aber ich schrieb nur zwei Worte und eine Zahl.
    »Das ist unsere Adresse«, sagte ich und schob den Block zu ihr hinüber. »Mein Vater ist Rechtsanwalt und kennt sich aus, er wird Ihnen ein gültiges, überall vorzeigbares Dokument ausstellen. Aber Sie müssen schon selbst in unseren jüdischen Stadtteil kommen und es sich abholen.«
    »Danke«, erwiderte Frau Kepler leise.
    »Und ich danke für den Tee und die Kekse«, antwortete ich, bevor sich mit einem letzten Klingeln die Tür des Reisebüros für immer hinter mir schloss.
    Ende August standen meine Eltern und ich mit unseren Papierfähnchen in der Hand am Rande der Nanking Road und winkten zwischen Tausenden Einheimischen, zahlreichen Flüchtlingen und auffallend wenigen Angehörigen der westlichen Siegermächte den nationalchinesischen Truppen zu, die im Triumph in Shanghai einmarschierten.
    Die verhassten Fahnen unserer Feinde waren verschwunden. Mit der Fahne der Chinesen wehte ein neuer Wind. Die Truppen Chiang Kai-sheks ließen keinen Zweifel aufkommen, dass sie als Sieger zurückkehrten, dass die Ausländer zwar geduldet waren, aber sich keinesfalls einbilden durften, in der Stadt noch etwas zu sagen zu haben. Es gab keinen internationalen Sektor mehr, und fremde Fahnen durften nur noch vor Botschaften und Konsulaten angebracht werden.
    Zur Erleichterung der Flüchtlinge sah es jedoch nicht so aus, als würden die neuen Machthaber den vielen kleinen jüdischen Geschäften und Unternehmen, die mit einem Mal aus dem Boden schossen, Steine in den Weg legen. Bald nach den Landungsbooten der GI s tauchten die US -Marines in ihren strahlend weißen

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