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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Gassen hetzte ich entlang, hämmerte an klapprige Fensterläden, niemand ließ mich ein. Der Boden bebte, als der Wolf näher kam, bebte und rumpelte und klirrte und –
    »Großer Gott, ein Erdbeben!«, schrie meine Mutter und es tat einen weiteren Rumms, als sie aus dem Bett und zum Lichtschalter sprang.
    Ich schlug die Augen auf und sah die Lampe an der Decke hin und her schwingen. Das große Holzkreuz über der Tür rutschte Zentimeter für Zentimeter zur Seite und auf dem Tisch tanzten mit winzigen Schritten die drei Tassen, die die Pensionswirtin uns am Abend freundlicherweise mit aufs Zimmer gegeben hatte.
    »Können sie uns denn keinen Augenblick in Ruhe lassen?«, schrie Mamu verzweifelt, als ob nur einer für das Erdbeben verantwortlich sein konnte. Blitzartig sah ich den Fü vor mir: die stechenden kleinen Augen, den angriffslustigen Schnurrbart, knochige Altmännerhände, die an der Weltkugel rüttelten, um uns zu erschrecken.
    Aber im Gegensatz zu Mamu hatte ich keine Angst, denn alles war besser als der Wolf. Eben noch hatte ich mich in mein Schicksal gefügt und fressen lassen wollen, nun hatte mein Verfolger schon wieder das Nachsehen. Sobald ich wach war, schien es mir nicht unwahrscheinlich, dass er als Erster aufgeben würde.
    »Genua liegt zwischen zwei tektonischen Platten«, erklärte Papa. »Kein Grund zur Aufregung! Ab und zu stoßen sie zusammen und dann wackelt die Erde.«
    Mamu stand im Nachthemd in der Mitte des Zimmers und starrte zur Decke, an der sich Setzrisse wie Spinnweben entlangzogen. In unserer Erleichterung, ein Dach über dem Kopf zu haben, waren wir beim Zubettgehen gar nicht auf den Gedanken gekommen, dieses näher in Augenschein zu nehmen.
    »Vielleicht rennen wir besser auf die Straße«, schlug Mamu zitternd vor.
    »Ich glaube, es hört schon auf«, meinte Papa, der auf der Bettkante saß. Der Schatten nachsprießender Haare auf seinem Kopf sah aus wie ein durchscheinendes Häubchen.
    Mamu ging mit so vorsichtigen Schritten zum Fenster, als befinde sie sich auf einem Schwebebalken, und klappte den Laden auf, um hinauszusehen. Von Leuten, die in Panik aus den Häusern stürzten, konnte keine Rede sein. Ich hörte einen Holzkarren in aller Ruhe übers Kopfsteinpflaster rumpeln, jemand rief: »Buon giorno!«
    »Ach«, sagte Mamu mit veränderter Stimme, »das ist ja ganz zauberhaft!«
    Nun sprang auch ich aus dem Bett, dessen Federn gegen die rücksichtslose Bewegung heftig protestierten, und blickte über einen kleinen Geranienkasten hinweg auf die Straße. Es war die erstaunlichste Verwandlung einer Gegend, die ich je erlebt hatte. Erstes Tageslicht umgab die Häuser, die mir im Dunkeln so bedrohlich erschienen waren, mit einem weichen blaurosa Schimmer und machte kunstvoll verzierte kleine Giebel und Balkone sichtbar, auf denen Blumentöpfe standen. Spatzen badeten in Wasserpfützen, von weit entfernt hörte ich Schiffsmotoren und das Kreischen großer Seevögel. Wieder lag jener würzige Duft in der Luft, der die Nähe des offenen Meeres verriet. Freiheit, das hatte ich gar nicht gewusst, besaß einen Geruch.
    Mamu legte den Arm um mich. »Gleich nach dem Frühstück spazieren wir zum Hafen«, versprach sie. »Es gibt noch eine Menge zu erledigen, bevor es morgen losgeht. Wir brauchen die medizinische Untersuchung, wir müssen kontrollieren, ob unser Lift angekommen ist …«
    »Als Erstes wird telefoniert«, unterbrach Papa sie nicht ohne Schärfe.
    Ein kleiner Stich fuhr mir ins Herz. Wie hatte ich in meiner Begeisterung nur für einen Augenblick Onkel Erik vergessen können?
    Nacheinander wuschen wir uns an dem Waschbecken neben der Tür und zogen uns an, wobei meine Eltern unter Verrenkungen hinter der ausgeklappten Schranktür in die Wäsche schlüpften. Dass ich kein eigenes Zimmer hatte, war nicht mehr ganz neu, aber bei Tante Ruth hatten sich die Erwachsenen wenigstens im Badezimmer ankleiden können.
    Da es kaum Möglichkeiten gab, den Blick woanders hin zu lenken, starrte ich, auf meinem Bett liegend, notgedrungen zu dem verrutschten Kreuz auf. Auch wir hatten daheim ein Kreuz besessen, allerdings ohne den gemarterten Körper von Jesus daran. Zwischen seinen Füßen steckte ein Zweig mit staubigen, verblichenen Blättern, die den Anblick noch trauriger machten.
    Seit unser Jüdischsein aufgeflogen war, waren Jesus und ich nicht mehr füreinander zuständig, aber sein vorwurfsvoller Blick bohrte sich unverwandt in mich. Konnte er schon vergessen haben, was der

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