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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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prallten wir auf Konitzers.
    »Ach, sieh an!«, rief Herr Konitzer aufgeräumt, aber Mamu unterbrach ihn: »Die sagen, es gibt keine medizinische Untersuchung!«
    Über Konitzers fiel eine große Stille. »Aber im Reisebüro haben sie uns gesagt, dass wir noch einen Stempel für eine medizinische Untersuchung brauchen!«, flüsterte Frau Konitzer.
    »Uns doch auch!«, flüsterte Mamu zurück.
    Sie sahen sich ratlos an. Auch Mischa und ich tauschten Blicke, um die Erwachsenen zu unterstützen, ohne dass mir allerdings klar war, was wir alle damit ausdrücken wollten.
    Schließlich beschloss Herr Konitzer: »Sie warten draußen! Wir gehen hinein und sehen, ob sie uns dasselbe sagen, und wenn sie uns zur Untersuchung schicken, kommen Sie einfach mit!«
    »Das wird wohl das Beste sein«, stimmte Mamu zu. Sie war ganz blass geworden, fast blasser noch als Papa, der stumm neben ihr stand.
    »Haben Sie eine medizinische Untersuchung machen müssen?«, stürzte sich Mamu draußen auf Eddy Fichte.
    Dieser schüttelte den Kopf. »Eine medizinische Untersuchung brauche ich erst, wenn ich auch eine Passage habe!«, erklärte er.
    »Siehst du?«, rief meine Mutter atemlos und griff nach Papas Arm. »Es ist allgemein bekannt, dass man eine medizinische Untersuchung braucht!«
    Papa fragte: »Ist das da drüben eine Telefonzelle?«
    »Untersteh dich, Franz! Du bleibst jetzt hier, wir warten auf Konitzers!«
    »Fünf Minuten«, gab mein Vater zurück und war schon auf dem Weg. Bevor Mamu mich festhalten konnte, rannte ich hinter ihm her und hörte sie schreien: »Ziska! Ja, sind denn jetzt alle verrückt geworden?«
    Durch die schmutzige Scheibe der Telefonzelle beobachtete ich, wie Mamu mit Eddy Fichte gestikulierte, bis der ihren Unterarm festhielt und beruhigend auf sie einredete. Sie ließ erst die Arme sinken, dann den Kopf; noch auf hundert Meter Entfernung wirkte sie mit einem Mal todmüde, obwohl der Tag doch gerade erst begonnen hatte.
    Hinter mir rollte der Rest der Münzen, die Papa am Brenner gewechselt hatte, durch den Schlitz des Fernsprechers. Als das Freizeichen ertönte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und wollte mithören, aber Papa schob mich weg.
    Plötzlich hatte ich die Erwachsenen ziemlich satt. Da schleppten sie mich durch die halbe Welt, stritten unentwegt, verloren vor meinen Augen die Nerven – aber anstatt dass irgendjemand auf den Gedanken kam, dass man mich vielleicht auch einmal dafür loben konnte, wie wenig ich dabei störte, heulte oder jammerte, taten sie, als ginge mich alles gar nichts an …!
    »Ernst, hier ist Franz!«, erschreckte mich Papas plötzlicher Ausruf; weder er noch ich hatten damit gerechnet, dass die Verbindung so schnell zustande kam. Vielleicht hatte Papas Bekannter schon neben dem Telefon gesessen und auf den Anruf gewartet.
    »Also doch«, murmelte Papa niedergeschmettert, nachdem er eine halbe Minute zugehört hatte. Seine Hand fuhr zum Kopf und über den kahlen Schädel, der Hut fiel zu Boden, ich hob ihn auf und klopfte Staub und Zigarettenasche ab.
    »Sie haben ihn mitgenommen, Ziska hat es gesehen. Ernst, vor dem Anhalter Bahnhof steht unser Wanderer – hoffentlich steht er noch da! –, im Handschuhfach liegen Papiere und Ersatzschlüssel. Wenn du ihn holen könntest … mein Schwager hat Kontakte, über die man den Wagen verkaufen kann, und mit dem Erlös … ja, meine Schwägerin kennt die Namen.«
    Gehetzt warf Papa Münzen nach. Sie ratterten fast schneller in die Geldschublade, als er sie oben in den Schlitz rollen konnte.
    »Wir hatten gehofft, sie kämen alle vier von dem Geld raus, aber unter diesen Umständen … ja, ich weiß, dass es fast unmöglich ist … ja, von Shanghai aus, vielleicht.«
    Aus dem Gebäude der Reederei traten Konitzers auf Mamu und Eddy Fichte zu. Herr Konitzer hob die Arme und ließ sie wieder fallen, dann standen alle mit hängenden Schultern kurz herum, bevor Mamu offenbar einfiel, dass sie Eddy noch gar nicht vorgestellt hatte. Eddy und Konitzers gaben einander die Hand.
    »Ich wünschte, ich müsste dich nicht darum bitten, Ernst«, sagte Papa und ich stellte mir vor, wie die Leitung seine Worte durch halb Europa zurück nach Hause trug, nach Berlin. »Aber du bist der Einzige, der jetzt noch helfen kann.«
    Es stimmte also: Onkel Erik war verhaftet worden. Meine Kehle schnürte sich zu, als ich mich plötzlich erinnerte, was ich tags zuvor gehofft hatte, wenigstens für einen Augenblick: dass ich mich nicht getäuscht hatte,

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