Nanking Road
Schulpastor zu mir gesagt hatte …? Ziska Mangold, du bist ab sofort vom Religionsunterricht ausgeschlossen! Du kannst im Flur warten, bis wir fertig sind.
Wahrscheinlicher war, dass gerade nur niemand Passendes da war. Na schön, gab ich schließlich nach, kletterte auf einen Stuhl und rückte das Kreuz gerade. Dabei fielen einige Blätter ab und rieselten mit trockenem Rascheln auf den Fußboden.
»Lass das Kruzifix in Ruhe, Ziska«, sagte Mamu streng.
Ich fuhr erschrocken zurück. Als hätte ich es geahnt! Jesus blickte schon wieder an mir vorbei, als hätte er nicht das Geringste mit mir zu tun, und für Sekunden sah ich einen dicken Arm vor mir, der uns beim Betreten des Schiffes den Weg verwehrte: Ihr habt ein Kreuz entweiht! Ihr müsst es angefasst haben mit euren jüdischen Händen, es lagen vier Blätter auf dem Fußboden!
Zum Glück war noch genügend trübes Grün zwischen Jesu Füßen übrig, um meine Tat nicht auf den ersten Blick erkennbar werden zu lassen. Schnell sammelte ich die abgefallenen Blätter ein und vergrub sie in der krümeligen Erde des Geranienkastens.
Vom Fenster aus sahen wir die Sonne über den Dächern aufgehen und dort hängen bleiben. Genueser traten auf die Straße, riefen einander Grüße zu, niemand schien hier irgendwelche Sorgen zu haben. Kinder mit Milchkannen jagten sich gegenseitig übers Pflaster, alte Frauen in Kopftüchern und langen schwarzen Röcken blieben an einer Ecke schräg gegenüber der Pension kurz stehen und bekreuzigten sich. Als ich den Hals reckte, entdeckte ich in einer Mauernische die mit Blumen geschmückte kleine Madonna.
Fenster wurden geöffnet und Wäscheleinen setzten sich in Bewegung, Hosen, Jacken, Strümpfe wurden Stück für Stück über die Straße gezogen in der Hoffnung, dass sie in mehreren Metern Höhe einen Sonnenstrahl oder Windhauch erhaschten.
»Shanghai liegt am Wasser«, erinnerte ich mich hoffnungsvoll. »Ist es da genauso hübsch?«
»Das mag gut sein«, meinte Papa zerstreut.
Meine Eltern wollten nicht die Ersten beim Frühstück sein, deshalb zögerten sie das Verlassen des Zimmers so lange hinaus, bis der Duft von frischem Kaffee mit unverkennbarer Aufforderung durch unseren Türspalt zog. Als wir den Frühstücksraum betraten, waren alle Tische bereits besetzt von Leuten, die schweigend aßen und auf unseren Gruß hin kurz und ohne jegliche Neugier nickten. Aber auch Eddy Fichte war da. Er saß an einem Platz am Fenster, winkte und lud uns ein, uns zu ihm zu setzen.
»Na, wie war die erste Nacht in Freiheit?«, wollte er wissen.
»Ein bisschen holprig«, bekannte Mamu, worauf Eddy Fichte lachte: »Ach, das Erdbeben, Sie Glückliche! Ich muss in See stechen, ohne eins erlebt zu haben – ich habe es verschlafen!«
»Und wann stechen Sie in See?«
»Morgen hoffentlich, auf der Scharnhorst .«
»Ach – das ist ja unser Schiff! Na so ein Zufall …«
»Noch«, bekannte Eddy Fichte mit gedämpfter Stimme, »habe ich keine Passage, aber ich habe Kontakte geknüpft … die Cousine dritten Grades eines Bordoffiziers …«
Meine Mutter spitzte den Mund zu einem vielsagenden »Oooh!«
»Seit wann sind Sie denn hier?«, fragte Papa.
»Seit zehn Tagen erst. Ja, ich hatte wirklich Glück!«
Meine Mutter und Eddy Fichte lächelten einander zu wie alte Freunde. Ich hätte ihn auch gern etwas gefragt – wo seine Familie war, zum Beispiel –, musste aber erst einmal darüber nachdenken, ob ich ihn Herr Fichte oder Eddy nennen sollte. Mit seinen wirren braunen Locken und dem dünnen Hals, der aus dem Hemdkragen ragte, wirkte er nicht, als ob er schon sehr lange erwachsen wäre, aber einfach Eddy zu sagen traute ich mich doch nicht.
Noch am dritten Reisetag in derselben Bluse gelang es meiner Mutter, auszusehen wie aus dem Ei gepellt. Eine widerspenstige schwarze Haarsträhne fiel ihr keck übers Auge und sofort wieder zurück, kaum dass sie sie mit einer munteren Handbewegung hinters Ohr gestrichen hatte. Eddy Fichtes gute Laune steckte sie an, als hätte sie nur darauf gewartet.
»Bestimmt kennen Sie sich bestens aus«, meinte sie, »und können uns sagen, wo wir die Reederei finden.«
»Aber ja, ich gehe nachher gern mit und zeige es Ihnen!«
Papa hob vorsichtig den Kopf. »Machen Sie sich keine Umstände«, erwiderte er. »Sagen Sie uns einfach, wo es ist, wir kommen schon zurecht.«
»Ach, das macht mir keine Umstände, ich sitze doch ohnehin nur die Zeit ab!«
Aus der Küchentür trat unsere Wirtin, Signora
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