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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Frankfurt. Seine Schwester Reba, nur zwei Jahre älter als ich … aber er musste sofort aufhören, über sie zu reden. Vielleicht war das der Grund, warum er sich nur mit meinen Eltern unterhielt und nicht mit mir.
    Am Nachmittag meinte Eddy, die Scharnhorst müsse jetzt bald einlaufen, und schlug vor, am Anleger zu warten und einen ersten Blick auf »unser Schiff« zu werfen.
    Wir waren nicht die Einzigen, die auf diese Idee kamen. Dutzende hatten sich bereits eingefunden und starrten gespannt übers Meer; bei jedem neuen hellen Fleck am Horizont erhob sich erwartungsvolles Murmeln. Ja, ein Passagierdampfer! Aber nahm er auch Kurs auf Genua? Und wie viele Schornsteine …? Die Scharnhorst hatte nur einen; zwei Schornsteine konnten zu einem italienischen Schiff gehören, zur Conte Rosso vielleicht, die auch nach Ostasien fuhr, aber nicht zur Scharnhorst .
    Mehr und mehr Leute blieben stehen, es gab genug zu sehen: Fischer, die am Kai ihre Netze flickten, Möwen, die auf dem Wind ritten, Fischbuden, aus denen es verlockend duftete. Andenkenverkäufer gingen von einem zum anderen, auch Kinder mit Musikinstrumenten, die hofften, sich ein paar Lira zu verdienen. Papa schüttelte beschämt den Kopf, als einer der Jungen ihm seine Mütze hinstreckte.
    Etwas atemlos gesellten sich Konitzers zu uns – atemlos weniger, weil sie sich so beeilt hatten, als wegen des umfangreichen Gepäcks, mit dem sie beladen waren. Herr Konitzer trug einen großen Koffer, Mischa und seine Mutter verschwanden beinahe hinter zusammengeschnürten Federbetten.
    »Na, noch eingekauft …?«, fragte Mamu kühl.
    Den Verlust unseres Lifts schien sie Konitzers persönlich übel zu nehmen, obwohl diese überhaupt nichts dafür konnten. Und nun behielten sie nicht nur ihren Container, sondern hatten offenbar noch Geld zum Einkaufen!
    Frau Konitzer lief auf Mamus Frage hin rot an und tat, als hätte sie nichts gehört.
    »Seht mal, ist sie das?«, fragte Mischa und nickte über sein Federbett hinweg Richtung Horizont.
    Diese Familie schien das Glück abonniert zu haben: Seit fast zwei Stunden standen wir am Kai und kaum tauchten Konitzers auf, ließ sich die Scharnhorst nicht länger bitten. »Da ist sie, da kommt sie!«, hörte ich es aufgeregt rufen, und während sich unter den einen ein freudiges Stimmengewirr erhob, ein Winken und Klicken von Kameras, stand eine andere Gruppe von Passagieren blass und stumm dabei.
    Wieder erschrak ich, weil wir Juden so auffielen. Wir waren aus Deutschland heraus; wurde es nicht Zeit, uns langsam wieder wie normale Leute zu benehmen …?
    Das Schiff kam näher, majestätisch und erhaben, als wäre es sich seiner Bedeutung bewusst: nicht irgendein Passagierdampfer, sondern erwartet, ersehnt, erhofft. Es schwebte auf uns zu, kostete den Auftritt aus, es hatte alle Zeit der Welt. Mehrere kleine Boote legten ab und fuhren der Scharnhorst entgegen, Händler, die den Passagieren, die bereits in Bremen an Bord gegangen waren, frisches Obst oder Andenken verkaufen wollten.
    Das Schiffshorn gab einen tiefen, durchdringenden Begrüßungston von sich, der mir durch Mark und Bein ging. Aber erst als sie in den Hafen einfuhr und langsam beidrehte, um anzulegen, erkannte ich, wie groß die Scharnhorst war. Der schwarze Schiffskörper türmte sich vor uns auf, hoch wie ein fünfstöckiges Haus, darüber ragten weitere Stockwerke eines weißen Aufbaus mit vielen kleinen Fenstern und überdachten Freigängen in die Höhe. Auf diesen langen Gängen drängten sich bereits zahlreiche Passagiere, winkten und fotografierten. Über ihnen schwebten auf jeder Seite des Schiffes fünf imposante Rettungsboote.
    Taue von der Dicke eines Armes wurden von Bord geworfen und von Helfern am Kai vertäut. Motoren dröhnten, Wellen schäumten, das Vibrieren des riesigen Schiffes durchlief mich von den Zehen bis in die Fingerspitzen. Man musste zurücktreten, ihre Majestät brauchte Platz; alle Gespräche verstummten, als ihr gewaltiger kühler Schatten sich über uns warf. Ich hielt den Atem an, während eine Tür in der Bordwand sich öffnete und als Erstes der Kapitän erschien. Eine Holztreppe rollte heran. Noch bevor ihre obere Plattform den Einstieg berührte, wurden die unteren Stufen bereits mit einem Gitter verhängt, an dem ein Blechschild hing.
    Zutritt nur für Passagiere.
    Plötzlich spürte ich einen Kloß im Hals. Wir waren Passagiere! Dies war »unser Schiff«! Es durfte uns nicht zurücklassen, es musste sein Versprechen halten!

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