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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Versuch unternahm, von mir wegzurücken.
    »Hallo, Ziska!«, rief eine Stimme und irgendwo weiter vorn sah ich zu meiner Überraschung eine Hand wedeln. Waren wir etwa auf demselben LKW wie Konitzers?
    Dann fiel mir ein, dass Konitzers und die Dame im Pelz gar keine Passagiere der ersten Klasse mehr waren. Jetzt waren wir in China, jetzt waren sie nur noch Flüchtlinge wie wir.
    Es soll Kinder geben, die Rummelplätze lieben, aber ich gehörte nie dazu. Ob mit vier, fünf oder sechs Jahren, ich schrie aus Leibeskräften. An die Karussells, mit denen Mamu und Papa mich Jahr für Jahr auf den Rummel lockten und vorübergehend vergessen machten, was beim letzten Mal passiert war, konnte ich mich kaum erinnern; wahrscheinlich hatte ich sie vor lauter Rücken, die sich vor und neben mir herschoben, überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.
    »Lasst mal die Kinder an den Rand!«, rief jemand, als wir beim Anfahren auf dem Wagen zusammengeworfen wurden. »Sie kriegen ja keine Luft!«
    Hände griffen nach mir und schoben mich unter dem Arm der Pelzmanteldame durch, die darüber zweifellos froher war als ich. Schon fand ich mich am Rand des LKW wieder und musste aufpassen, nicht übers Geländer geschubst zu werden, mitten hinein in das lärmende chinesische Gewimmel am Boden. Immerhin hörte ich über die Köpfe der anderen Papas Stimme: »Ziska, wir sind ganz in der Nähe!«
    Fremden Mänteln entschlüpfte mit puterrotem Gesicht Mischa Konitzer und japste: »Jetzt können wir wenigstens etwas sehen!«
    Ich riskierte einen vorsichtigen Blick. Fußgänger, Rikschas, Autos, mit Gepäck beladene Schubkarren und Fahrräder waren zwei Flüsse; der eine schob sich in unsere, der andere in die Gegenrichtung, während unsere Lastwagen auf der falschen, der linken Straßenseite mitrollten und ab und zu ein hilfloses Hupen von sich gaben. Zwischendrin schoben sich auch noch eine Tram und ein doppelstöckiger Bus vorwärts, der an einer Oberleitung hing. Außen an Bus und Tram klebten Menschen und hielten einander auf den Trittbrettern fest; ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie es drinnen aussah.
    Ein sehr großer, offenbar lebensmüder Mann mit Turban stand auf einem flachen Podest mitten auf der Straße und führte einen Tanz auf. Er streckte den linken Arm aus, fuchtelte mit dem rechten, drehte sich auf einer Fußspitze elegant um die eigene Achse und schaffte es, gleichzeitig mit dem anderen Fuß zu wedeln. Erwartete er, dass ihm jemand für diese Verrenkungen ein Trinkgeld gab? Erst als Fahrzeuge unmittelbar vor ihm zum Stehen kamen und einige Fußgänger von beiden Seiten über die Straße eilten, begriff ich, dass wir es mit einem Verkehrspolizisten zu tun hatten. Mischa hingegen hatte von Rainer bereits gehört, dass für diese Aufgabe indische Sikhs eingestellt wurden, da sie alle anderen um eine Kopflänge überragten.
    Hatte ich bislang geglaubt, Berlin sei eine Großstadt und verfüge über eine beträchtliche Menschenmenge, so wurde ich während der ersten Minuten in Shanghai schlagartig eines Besseren belehrt.
    Das Gedränge lichtete sich ein wenig, als wir die Uferpromenade entlangfuhren, wo gepflegte Limousinen vor den Eingängen großer Geschäfte, Banken und Hotels parkten. Gut gekleidete Menschen flanierten gemächlich und überrascht stellte ich fest, dass wir in diesem zweifellos wohlhabenden Straßenzug viel weniger chinesische als europäische Gesichter sahen.
    Ein Stein machte sich bereit, mir vom Herzen zu fallen. Was, wenn diese vornehmen Leute Juden waren, die es geschafft hatten …? Wer sollte schließlich sonst freiwillig in eine Gegend kommen, in der einem Würmer unter die Haut krochen?
    Mischas berechtigte Frage dämpfte meine Erleichterung nur ganz wenig: »Es ist ja schön, dass Shanghai alle hereinlässt, aber wo in aller Welt sollen wir hier noch Platz finden?«
    Ich dachte mir zunächst auch nichts dabei, auf das Ende der Prachtstraße zuzusteuern. Wir passierten einige umzäunte Botschaften – die Hakenkreuzfahne als eine unter vielen, ganz wie Papa gesagt hatte –, und gleich danach einen gepflegten kreisrunden Park, in dessen Mitte ein kleiner Pavillon stand.
    Auch als die Bögen der gewölbten Eisenbrücke vor uns auftauchten, die ich schon vom Schiff aus gesehen hatte, wurde ich nicht misstrauisch, denn ich hatte vollkommen vergessen, was dahinter lag. Ich erinnerte mich erst, als sich mit einem Mal ein unruhiges Murmeln erhob: »Das darf nicht wahr sein! Wir sollen in die Trümmer

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