Nanking Road
Fall beim Generalkonsulat, und wenn sie sich auf den Kopf stellen. Was geht die Deutschen denn jetzt noch an, wo ich bin?«
Mein Vater jedoch war der Meinung gewesen, es müsse alles seine Ordnung haben, wir seien, ob die Nazis es wollten oder nicht, immer noch deutsche Staatsbürger mit gültigen deutschen Pässen. Wenn wir uns nicht meldeten, gab er zu bedenken, könne es vielleicht sogar Schwierigkeiten mit unserer Quote geben.
»Was, wenn die Amerikaner uns als staatenlos einordnen? Dann warten wir womöglich viel länger, als wenn wir auf der deutschen Quote ausreisen!«
Worauf Mamu sofort mit allem einverstanden war, zweifellos erleichtert, dass Papa offenbar Vernunft angenommen hatte und jetzt doch nach Amerika wollte.
Zu unserer Beruhigung tauchten, während wir warteten, noch weitere unbehaglich dreinblickende Flüchtlinge auf, um ihrer Meldepflicht Genüge zu tun. Auch sie mussten ihre Pässe abgeben und warten, und Papa hatte Recht gehabt, es hatte alles seine Ordnung, dies war ein ehrwürdiges Konsulat, nicht die Gestapo, die Hakenkreuzfahne bedrohte uns nicht mehr und hinter keiner Tür wurde gebrüllt.
Endlich wurden wir aufgefordert, in den Nebenraum einzutreten, wo Papa eine Meldekarte ausfüllte und unsere drei Pässe wieder entgegennehmen durfte.
Ich sah ihn stutzen, als er einen Blick darauf warf, stutzen und sich zur Ordnung rufen, um den reibungslosen Ablauf nicht zu gefährden.
Dann standen wir auf der Straße. Aus Papas Gesicht war die Farbe gewichen. »Nun seht euch das an«, sagte er tonlos und zeigte uns unsere Pässe.
Auf jedem Ausweis prangte das schmähliche rote »J«. Saß schief und höhnisch mitten auf der Seite und verschmierte das Passbild, der Bogen streifte unsere lächelnden Gesichter wie ein Kinnhaken.
»Das J! Aber warum denn jetzt noch …?«, rief Mamu atemlos.
Achteinhalbtausend Kilometer hatten die Nazis uns aus unserem eigenen Land gejagt. Wir waren im ärmsten, verfallensten, entlegensten Winkel der Erde angekommen. Aber abgeschüttelt hatten wir sie nicht.
II
DIE STADT ÜBER DEM MEER
(1939–1940)
10
Nach ungefähr vier Wochen wollte Miss Schröder wissen, wer von uns denn schon auf Englisch träumte. Dies schien mir unter den dummen Fragen, die ab und zu an uns gerichtet wurden, nur eine ganz gewöhnliche weitere zu sein, doch zu meiner Überraschung meldeten sich tatsächlich über die Hälfte der Kinder in meiner Prep School -Klasse und bestätigten errötend, dass ihnen genau dies in letzter Zeit passiert sei: Sie hätten auf Englisch geträumt!
»Du nicht, Ziska?«, fragte Miss Schröder liebenswürdig.
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Meine Träume sind zu kompliziert.«
Worauf Miss Schröder einen Freudenschrei ausstieß, in ihre Handtasche griff und die gefürchtete blaue Kladde hervorzog. »Meine Träume sind zu kompliziert …!«, wiederholte sie hingerissen und trug meinen Spruch in ihre Sammlung ein. Die Sammlung hieß Kindermund und am Ende des Schuljahrs würde sie vor allen Lehrern, Schülern und den Gönnern aus der jüdischen Gemeinde daraus vorlesen, die eigens für die wachsende Zahl deutscher Kinder, die noch kein Englisch sprachen, eine Lehrkraft bewilligt hatten.
Seit ich in Miss Schröders Klasse war, nahm die Sammlung anscheinend richtig Fahrt auf und allmählich begann ich dem Ende des Schuljahrs mit bösen Vorahnungen entgegenzusehen. Zwar würde es für die Teilnahme an Liedern und Reimen, mit denen wir uns »spielerisch dem Erlernen der englischen Sprache näherten«, noch kein Zeugnis geben, dennoch wurde man selbst hier im »Kindergarten« fortwährend von Erwartungen verfolgt.
Die anderen Kinder sahen mich halb mitfühlend, halb vorwurfsvoll an. Schon so lange in Shanghai und träumt noch auf Deutsch!
»Von jetzt an«, versprach Miss Schröder, »werden wir uns nicht nur im Klassenraum, sondern auch hier am Mittagstisch auf Englisch unterhalten. Ihr werdet sehen, es gibt nichts, was ihr nicht zum Ausdruck bringen könnt, ohne deutsche Wörter zu benutzen.«
Diesen Vorsatz setzte sie augenblicklich in die Tat um. Ich warf einen hilfesuchenden Blick quer durch den Raum, aber Mischa saß während der Mahlzeiten zwischen seinen eigenen Klassenkameraden, bis zum Nachhauseweg war ich also auf mich allein gestellt.
Mamu konnte nicht aufhören, von meiner neuen Schule zu schwärmen. Ein früherer Restaurantkoch sorgte für die Verpflegung, unter den Lehrern und Lehrerinnen waren ehemalige Hochschulprofessoren und sogar
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