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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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helfen beim Geldverdienen, du aber darfst lernen!«
    Tatsächlich gab es außer Mischa und mir nur zwei weitere Kinder unter all den neuen Familien in unserem Schlafraum, die morgens in Schuluniform das Heim verließen, und ich spürte jeden einzelnen Blick, der uns folgte. Eine Schule für die Flüchtlingskinder war in Planung, aber noch nicht fertig, und einen anderen Raum, in dem Unterricht hätte stattfinden können – schließlich waren genügend Lehrer und Lehrerinnen unter den Auswanderern –, gab es nicht. Jeder verfügbare Meter im Heim war von Betten belegt. Die meisten Kinder halfen, wenn sie sich nicht auf der Straße herumtrieben, in der Küche oder nähten Knopflöcher.
    Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass ich mehr um die Schuluniform beneidet wurde als um den Unterricht. Die Schuluniform – blauer Faltenrock und weiße Bluse – war eigentlich nichts Besonderes, aber zum ersten Mal hineinzuschlüpfen hatte sich angefühlt, als würde mir ein Orden um den Hals gehängt. Aufgenommen in einen Kreis, in dem kein Mädchen sich mehr vom anderen unterschied! Ich konnte kaum abwarten, mich mit ihnen zu vermischen und spiegelte mich auf der Nanking Road in jedem erreichbaren Schaufenster.
    Leider werden Uniformen überschätzt. Dass ich aussah wie die anderen, hieß keineswegs, dass ich passte. Spätestens beim Betreten der Synagoge wurde mir bewusst, dass wir die Uniform zwei Nummern zu groß gekauft haben mussten.
    Wenn ich, die noch nie die Schwelle einer Synagoge überschritten hatte, etwas bescheidener hätte anfangen können, wäre die erste Begegnung vielleicht anders verlaufen, aber die Shanghai Jewish School, ein zweistöckiger gepflegter Backsteinbau, lag ausgerechnet auf dem Gelände der größten und prunkvollsten Synagoge ganz Asiens. Ich war wie erschlagen von der Pracht um mich herum. Funkelnde Kristallleuchter schwebten über mir, links und rechts stemmten Säulen prächtige Balkone und überall glänzte Marmor, verziert mit Gold.
    Ich bekam den Mund nicht mehr zu. Wie war das möglich? Was hatte dieser Palast mit dem Jüdischsein zu tun, wie ich es kannte, mit Tritten und Hieben, Beschimpfung und Spott?
    »Na, gefällt es dir, Ziska?«, fragte das bildschöne Mädchen, das uns Neue herumführte, und zu dem ehrfürchtigen Staunen über die Synagoge kam der Schock, dass sie sich meinen Namen gemerkt hatte.
    Ich platzte heraus: »Es ist so wunderschön! Die Säulen, die Balkone … und erst der Altar!«
    Es wurde still. Füße hörten auf zu scharren. Alle Blicke richteten sich auf mich.
    »Du meinst bestimmt den Thoraschrein«, verbesserte das Mädchen nach einer bedeutsamen Pause – ob sie fünf oder fünfzig Sekunden dauerte, hätte ich nicht sagen können, die Zeit stand still. »Dieser Schrein ist in der Tat etwas Besonderes. Er enthält dreißig uralte Thorarollen aus Bagdad, die die ersten Mitglieder der Ohel Rahel-Synagoge bei ihrer eigenen Einwanderung mitgebracht haben. Du weißt, was die Thora ist, Ziska?«
    Ich hatte noch nicht wieder zu atmen begonnen, und das Mädchen überging die Frage, als hätte sie sie gar nicht gestellt, weil sie wohl davon ausging, dass alle außer mir die Antwort ohnehin kannten.
    »Siebenhundert Gläubige haben in diesem Gotteshaus Platz«, fuhr sie fort. »Dies ist die Synagoge der sephardischen Juden: Juden aus Bagdad und Bombay. Es gibt eine weitere, noch größere Gruppe in Shanghai, die Ende letzten Jahrhunderts aus Russland eingewandert ist und eine eigene Synagoge hat, die Ohel Moshe-Synagoge in Hongkou. Wer weiß, wie man diese Juden nennt?«
    »Aschkenasim«, antworteten alle außer mir im Chor.
    »Auch du wirst unsere Synagoge noch sehr gut kennenlernen, Ziska«, versprach das Mädchen und plötzlich fiel mir der Name wieder ein, mit dem sie sich vorgestellt hatte – sie hieß Judith. »Ihr werdet sehen, alle von euch werden sich hier bald zu Hause fühlen. So, und als Nächstes gehen wir in unser wunderbares neues Physiklabor!«
    Auf dem Weg über den Schulhof hing mir die Uniformbluse wie ein Zehnkilosack über den Schultern. Zu meiner Linken ging Mischa, ohne ein Wort, zur Rechten Judith, die ermutigend auf mich einredete.
    »Du kannst nichts dafür, dass du das alles nicht weißt, Ziska. Viele Familien aus unserem Volk sind vom Glauben abgefallen, aber keine Angst, dies ist der beste Ort, um wieder zurückzufinden! Weißt du was? Ich werde dir helfen!«
    Ich blickte auf. Judiths klare braune Augen sahen mich aufrichtig und besorgt an

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