Nanking Road
ein ausgewanderter Sportler, der 1932 eine olympische Medaille gewonnen hatte.
Der frühere Restaurantkoch lehnte wie immer an seiner Spüle, als wir unsere Teller zurückbrachten, verschränkte die Arme über dem Bauch und sah uns mit einem Ausdruck tiefster Resignation zu. An einem der ersten Tage hatte ich mir ein Herz gefasst und ihm für alle hörbar zugerufen: »Es hat mir prima geschmeckt!«
Aber der frühere Restaurantkoch hatte nur noch trauriger dreingeschaut und erwidert: »Och Kindchen, wie soll ich denn von den paar Pfennigen etwas kochen, das schmeckt?«
Auch bei den älteren Mitschülern war mein Einwurf nicht gut angekommen. »Kein Deutsch!«, hatten mich gleich mehrere erschrocken angezischt und den gutaussehenden sephardischen Kindern entschuldigende, fast unterwürfige Blicke zugeworfen. Die sephardischen Jungen und Mädchen blieben meist für sich, höflich zwar, aber reserviert, und obwohl sie aus den Familien stammten, die uns Flüchtlinge unterstützten, merkte man ihnen an, dass unsere wachsende Zahl ihnen nicht behagte.
Ich lief dunkelrot an und Mischa musste mich mit dem Hinweis in Schutz nehmen, ich sei doch noch neu. In fließendem Englisch selbstverständlich. Mischa war genauso »neu« wie ich, aber im Gegensatz zu mir fühlte er sich an dieser Schule vom ersten Tage an zu Hause.
»Spürst du, wie sie uns mit offenen Armen aufnehmen?«, hatte er mit leuchtenden Augen beim ersten Nachhauseweg gefragt.
Ich musste einräumen, dass ich mich während der Ansprache des Direktors in der Tat willkommen gefühlt hatte, dass ich jedoch nicht verstand, warum er jedem von uns persönlich die Hand hatte drücken und erklären müssen, dass wir »die Schule stolz machten«.
»Konnte er nicht einfach sagen, dass wir fleißig lernen und gute Zeugnisse bekommen sollen? Wie kann er denn stolz darauf sein, dass wir nur da sind?«
»Er will damit ausdrücken, dass wir etwas wert sind!«, belehrte mich Mischa. »Dass wir uns dessen wieder bewusst werden müssen, damit etwas Großes aus uns werden kann.«
Seine Antwort hatte mir die Sprache verschlagen, doch er schien Recht zu haben: Gerade noch war von uns jüdischen Kindern erwartet worden, dass wir uns unsichtbar machten, jetzt sollten wir auf einen Schlag so viel Frucht bringen, dass ich mich schon ganz ausgehöhlt zu fühlen begann. Aber das konnte ich Mischa schlecht sagen, denn dass ich auf diese hervorragende Schule gehen durfte, verdankte ich schließlich seinen Eltern.
Es fiel nicht schwer, mir Herrn Konitzers Gesicht vorzustellen, wenn Miss Schröder am Ende des Schuljahrs die Kladde auspackte und meine Unzulänglichkeit bloßstellte. Herr Konitzers Blick auf mich hatte sich seit jenem Vormittag am Brenner nicht geändert: liebenswürdig, aber enttäuscht, als könne er geradewegs in mich hineinsehen. Seit Kurzem wollte er Onkel Victor genannt werden, woran ich allerdings noch arbeitete – mir war klar, dass es freundlich und ermutigend gemeint war, aber in Wahrheit setzte es mich nur noch mehr unter Druck, dass er trotz allem, was mit mir nicht stimmte, mit mir verwandt sein wollte.
Mamu hatte gezögert, als Frau Konitzer – Tante Irma – mit dem großzügigen Angebot herausgerückt war, meine fünf Dollar Schulgeld für die Shanghai Jewish School zu übernehmen. Die katholische Nonnenschule wäre umsonst gewesen, kam aber nicht infrage.
»Die Nonnen sind nur darauf aus, unsere Kinder zu taufen!«, warnte Tante Irma.
Sie beim Vornamen zu nennen, fiel mir nicht schwer; sie war eine sanfte, freundliche, stets etwas bekümmert wirkende Person, die mich an Frau Liebich erinnerte. »Aber ich bin doch schon getauft«, wandte ich ein.
»Die evangelische Taufe zählt für die Katholiken nicht«, klärte mich Tante Irma auf.
Mein Mund stand offen. »Wieso denn das?«
»Später, Ziska«, sagte Mamu automatisch, und an Tante Irma gewandt: »Ich würde euer Angebot am liebsten ablehnen. Ich weiß nicht, wann wir das Geld zurückzahlen können.«
»Willst du die Nonnen an deine Tochter heranlassen?«, erwiderte Tante Irma mit hochgezogenen Brauen und das Thema war erledigt. Papa und ich wurden nicht gefragt. Auch für die Schuluniform kamen Konitzers auf, für das Schreibzeug, den Ranzen und das Lineal. In der Nacht vor meinem ersten Schulbesuch träumte ich, wie ich damit Nonnen abwehrte, die hinter mir her waren.
»Diese Schule«, appellierte Mamu, als ob ich es nicht selber wüsste, »ist eine Verpflichtung, Ziskele. Andere Kinder
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