Nanking Road
und links ab. Über die Mauern konnte man mühelos hinwegsteigen und in luftiger Höhe sowohl die Chusan Road bis zur nächsten Straßenecke ablaufen, als auch über die Dächer der Nebengebäude und Hinterhöfe in mehrere Querstraßen gelangen. Ich selbst hatte es noch nicht ausprobiert, aber die Kinder der Hus besuchten ihre Freunde angeblich über die Dächer, also war auch auf unserem Dach bestimmt ein interessantes Kommen und Gehen.
Jetzt waren wir mittendrin – mittendrin in China! Eine prickelnde Vorfreude ergriff mich, ein Gefühl von Verwegenheit und Abenteuer, und ich musste an die kleine Karte unseres Viertels denken, die Bekka in ihrem Schuh trug. An die Unternehmenslust meiner Freundin, die hier bestimmt keine Grenzen gekannt hätte.
»Wollen wir mal nachsehen, was dort hinten ist?«, schlug ich Mischa vor und zeigte über die Dächer, doch in diesem Augenblick bemerkten wir Frau Fränkel. Oder vielmehr: Sie bemerkte uns.
Auf fast allen Dächern stand in der Nähe des Treppenaufgangs ein mehr oder weniger stabiler Verschlag, hinter dem sich die Haustoilette verbarg, und Frau Fränkel war gerade dabei, eine bevorstehende Sitzung durch energisches Putzen der Klobrille vorzubereiten. Die Anbringung der Klobrille hatten Papa und Herr Fränkel durchgesetzt, obwohl darunter nur ein Kübel stand.
»Ach herrje«, murmelte ich bestürzt, als ich unsere neue Nachbarin sah, und jeglicher Anflug von Freude war sofort wie ausgeknipst.
Frau Fränkel, einige Jahre jünger als Mamu und Tante Irma, war ein Bild des Jammers. Erst vor wenigen Wochen war sie ihrem Mann nach Shanghai gefolgt und hatte noch immer rote, geschwollene Augen wegen Jakob. Jakob, der sechs Jahre alt war, litt an einem Herzfehler und sein Kinderarzt hatte dringend abgeraten, ihn nach Shanghai mitzunehmen. Von früh bis spät bedauerte Frau Fränkel, zugestimmt und ihren Sohn zu Pflegeeltern nach England geschickt zu haben.
Noch keine zwei Stunden unterm selben Dach, hatten wir sie und ihren Mann bereits laut darüber streiten hören können.
»Wie konntest du mich so unter Druck setzen, das verzeihe ich dir nie!«
»Wir sind in Sicherheit, wir alle drei, begreif das doch endlich! Jakob ist bei einer lieben Familie. Für seine Gesundheit wird in England bestens gesorgt, was weder in Deutschland noch hier der Fall wäre, und nächstes, spätestens übernächstes Jahr, wenn wir nach Amerika weiter dürfen …«
»Wenn du gehört hättest, wie er geweint hat! Ich hätte das niemals zulassen dürfen!«
Ich warf Frau Fränkel einen entschuldigenden Blick zu, der heißen sollte, dass wir sie weder beim Weinen noch beim Austreten stören, sondern nur kurz die Terrasse besichtigen wollten. »Willst du mich deinem Freund nicht vorstellen?«, fragte unsere neue Nachbarin, während ihr zwei Tränen die Wangen hinabrollten.
Mischa gab ihr verlegen die Hand und wir verzogen uns ans andere Ende des Daches. Flüsternd erzählte ich Mischa, was mit Frau Fränkel los war und dass man ihr, wie meine Eltern meinten, nicht helfen konnte.
Dabei blickten wir über die Mauer hinweg direkt auf die Chusan Road hinunter. Von Tag zu Tag war hier zu beobachten, wie der Wiederaufbau Hongkous voranschritt. Die Häuserzeile auf unserer Straßenseite war bereits wieder vollständig, während schräg gegenüber ein beschädigtes Haus in ähnlicher Weise ausgebessert wurde wie das, in dem wir von nun an leben würden: Löcher im Mauerwerk wurden geschlossen, Treppenhaus und Fenster stabilisiert, das Dach und der Balkon im ersten Stock neu aufgebaut. Unten sollte ein Laden oder Restaurant einziehen und einige Straßen weiter machte die neue Schule für die Flüchtlingskinder Fortschritte. Den Stifter der Schule, einen beleibten, freundlichen indischen Herrn namens Sir Horace Kadoorie, konnte man ab und zu persönlich die Baustelle abschreiten und den Stand der Dinge kontrollieren sehen. Die jüdische Gemeinde verehrte ihn.
Auch ich begann, kaum eingezogen, bereits mit einem gewissen Stolz auf unsere Straße zu blicken. Neben Cafés und Restaurants betrieben dort auch zahlreiche Lebensmittelhändler ihr Geschäft und wie immer faszinierte mich, was man alles davontragen konnte, wenn man es zu beiden Seiten eines langen Bambusstabes festband. Auch die chinesische Methode, größere Lasten auf Schubkarren zu schieben, fand ich sehr praktisch. Man rangierte damit geschickter als mit einer Rikscha, und Autos kamen in die schmalen Seitenstraßen von Hongkou sowieso nicht
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