Nanking Road
hatten sie noch im Eintreten diskret hinter die Tür gestellt, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Später, als sie wieder gegangen waren, war es das Erste für uns, den Karton zu öffnen – Konitzers hatten uns Geschirr, einen Kochtopf und eine der schweren gewölbten Pfannen geschenkt, wie die Chinesen sie benutzten, dazu eine Flasche Jod, um Kochwasser zu desinfizieren. Aber erst einmal taten wir alle sechs, als wäre der Karton unsichtbar.
Bei der kurzen Führung durch unsere Wohnung kam ich allerdings nicht umhin zu bemerken, dass Tante Irma bereits heimlich Maß nahm für weitere Spenden, und obwohl ich wusste, wie gut sie es meinte, ärgerte ich mich ein wenig. Neben der Konitzer-Wohnung mochte sich unsere Bleibe sehr bescheiden ausnehmen, aber winzig oder nicht: Dies war unsere lang ersehnte eigene Wohnung in China, und die eigene Wohnung in China hieß für mich nichts anderes, als dass wir von nun an alles, was zum Leben gehörte, allein meistern würden!
»Morgen holen wir die Nähmaschine!«, sagte ich rasch, als ich Tante Irmas mitleidigen Blick in unser kleinstes Zimmer bemerkte.
»Nähmaschine?«, wiederholte Tante Irma.
Mamu blickte mich warnend an und schüttelte leicht den Kopf, aber Papa hatte keine Lust zu lügen. »Wir bekommen eine Maschine von der christlichen Mission«, erklärte er. »Leihweise, gegen eine kleine Gebühr. Ziska und ich haben gestern den ganzen Abend Zettel mit unserer Adresse im Viertel aufgehängt.«
» Hose durchgesessen? Hemdärmel gerissen? Mantelfutter zerschlissen? Wir bessern aus! «, zitierte ich stolz. Mischa verbiss sich ein Grinsen.
»Über kurz oder lang wird jeder Auswanderer seine Sachen flicken lassen müssen«, meinte Papa. »Die wenigsten haben das Geld für neue Kleidung.«
»Aber die christliche Mission …!«, entfuhr es Tante Irma, während Onkel Victor nur traurig und enttäuscht aus dem Fenster guckte und tat, als hörte er gar nicht mehr zu.
»Der Tipp kam aus dem Ward Road-Heim«, verteidigte sich Mamu.
»Müsst ihr etwas dafür tun?«, fragte Tante Irma aufgeregt.
»Nein, es kostet nur die Leihgebühr«, versicherte Mamu. »Kein Gottesdienst, keine Bibelstunden, ihr könnt ganz unbesorgt sein.«
»Nicht einmal Taufen«, witzelte Papa. »Sie haben uns geglaubt, dass wir evangelisch sind.«
»Was warst du eigentlich, Tante Irma?«, fragte ich. »Ich meine, bevor du jüdisch wurdest?«
Tante Irma lief rot an. »Nichts«, sagte sie barsch. »Mein Elternhaus war nicht gläubig.«
Onkel Victor donnerte: »Es spielt überhaupt keine Rolle, was Irma war! Nimm die Maschine, Franz, sieh es als Wiedergutmachung für das, was diese Leute uns angetan haben. Und jetzt will ich entweder nichts mehr davon hören oder wir fahren nach Hause!«
»Willst du Mischa die Dachterrasse zeigen, Ziska?«, fragte Mamu nach einer kurzen unangenehmen Pause, in der ich am liebsten im Boden versunken wäre, obwohl – oder gerade weil – ich gar nicht verstand, was an meiner Frage so schlimm gewesen war.
Ich war froh, als Mischa mir zu Hilfe kam: »Ihr habt eine Dachterrasse? Ja, die muss ich unbedingt sehen!«
»Puh!«, sagte er, als wir auf der Treppe waren. »Sei Paps nicht böse, dass er dich angefahren hat. Er meint es nicht so. Gerade Paps sagt immer, wir dürfen euch nicht verurteilen, ihr werdet schon selber merken, wo ihr hingehört.«
»Erst einmal«, sagte ich feierlich, »gehören wir hierher!«, und mit großer Geste öffnete ich die Tür zum Dach.
»Whhhoooa!«, machte Mischa hingerissen und alle neidischen oder mitleidigen Vergleiche waren auf der Stelle vergessen.
Unsere Dachterrasse bot eine einmalige Kulisse: Über mehrere Reihen anderer Dächer hinweg – darunter das hübsche rote Dach eines chinesischen Tempels und die weniger schönen Ecktürme des Gefängnisses in der Ward Road – waren Hafenkräne und die gemächlich vorbeiziehenden Schornsteine großer Schiffe zu erkennen. Von der Chusan Road drang der Lärm der Händler herauf, die sich bei ihren Geschäften gegenseitig zu übertönen versuchten. Feuerstellen dampften. Wäsche flatterte auf Leinen. Da die Häuser sehr schmal waren – unsere beiden kleinen Zimmer stellten eine ganze Etage dar –, waren auch die Dachgärten nur winzig, doch Papa und Herr Fränkel hatten einen dünnen Bambus aufgetrieben, der bei entsprechendem Wetter Urlaubsstimmung verbreiten würde, und Oma Hu zog Bohnen an einer Ranke.
Niedrige Mäuerchen grenzten unsere Terrasse von denen der Nachbarn rechts
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