Nanking Road
die Chusan Road in einen morastigen, Blasen schlagenden Fluss verwandelt, der gemächlich Richtung Huangpu zog.
»Mamu! Papa! Wir sind überschwemmt!«
Meine Eltern kämpften sich aus ihrem Bettzeug, in das sie in mehreren Schichten eingewickelt waren wie Mumien. »Wanzen! Kakerlaken! An der Decke, unterm Bett, überall!«, jammerte Mamu. »Ich habe kein Auge zugetan. Als Allererstes müssen wir Fliegenklatschen und Moskitonetze besorgen, Franz!«
»Mach ich«, versprach Papa, bevor er zum Fenster tappte und murmelte: »Auch das noch.«
Nun hielt es auch Mamu nicht mehr im Bett. Beklommen sahen wir aus dem zweiten Stock, wie die Einheimischen sich durch die schmutzige braune Brühe kämpften, die Schuhe, falls vorhanden, an Bändeln um den Hals, die Knöchel unter Wasser.
»Auf keinen Fall gehst du barfuß durch diesen Dreck, Ziska!«, entschied Mamu.
»Vielleicht fällt die Schule heute aus«, schlug ich hoffnungsvoll vor.
»Wohl kaum«, meinte Papa. »Shanghai ist berühmt für seinen Regen. Hast du schon vergessen, was der Name Hongkou bedeutet?«
»Der Mund des Regenbogens«, antwortete ich verzagt.
Worauf Papa beschloss, eine bessere Gelegenheit, das zuverlässigste chinesische Transportmittel einmal auszuprobieren, könne es gar nicht geben.
Keiner von uns war bisher in einer Rikscha gefahren. Meinen Eltern bereitete die Vorstellung Unbehagen, sich von einem anderen Menschen ziehen zu lassen, aber auch Oma Hu schien die Rikscha unter diesen Umständen für das praktischste zu halten. Sie begriff sofort, was der Plan war, als sie uns nebeneinander in der Haustür stehen sah.
»Hello? Hello!«, rief Papa, als die erste freie Rikscha auftauchte, aber der Kuli beachtete uns nicht. Die zweite Rikscha versuchten wir zu dritt herbeizuwinken, aber ohne Erfolg.
Also doch laufen …? Zwei Treppenstufen hielten das Wasser vom Inneren des Hauses fern, doch es war nah genug, um zu erkennen, was zu unseren Füßen vorbeitrieb: eine braune Soße aus Lumpen, Exkrementen, Gemüse- und Fleischabfällen, in der äußerst lebhafte Ratten paddelten und tauchten und sich nicht im Geringsten um uns scherten.
»No can do?«
Oma Hu drängte sich an uns vorbei und pflanzte sich mit energischem Blick in der Haustür auf. Als eine Rikscha sich näherte, streckte sie eine Hand aus und drehte die Handfläche nach unten, worauf uns der Fahrer unverzüglich ansteuerte. Oma Hu zeigte auf mich, und ehe ich mich’s versah, hatte der triefnasse Kuli mich auch schon gepackt und in die Pfütze gesetzt, die auf seinem Wagensitz stand.
»What side?«, fragte Oma Hu, nahm Papa unseren Regenschirm ab, spannte ihn auf und reichte ihn mir. Der Regenschirm war nach all den Möbelkäufen die letzte Investition gewesen, für die »das jüdische Startkapital« gereicht hatte.
»Garden Bridge Tram«, antwortete Papa und der Kuli hielt seine ausgestreckten Finger hoch, worauf mein Vater ihm mit Omas Hus Hilfe eine Anzahl Münzen in die Hand zählte.
Dann traten meine Eltern und Oma Hu zurück und winkten. Erst jetzt begriff ich, dass ich allein mit dem Kuli davonfahren sollte!
»Aber Mamu, du wolltest doch nach Arbeit suchen!«, rief ich entsetzt.
»Später, Ziskele«, erwiderte meine Mutter und schlang fröstelnd die Arme um sich.
Der Kuli trabte los und meine Eltern, Oma Hu, unser neues Haus, meine ganze neue Straßenecke, an die ich mich noch nicht einmal gewöhnt hatte, entschwanden meinen Blicken. Fassungslos umklammerte ich den Regenschirm, während die Rikscha unter mir wippte und schwankte und jeden Schritt, den der Kuli tat, an mich weiterreichte. Vom Rand des Schirms tropfte es auf meine Knie.
»Was willst du?«, hätte Bekka gesagt. »Wenigstens ist es sauberes Regenwasser und du musst nicht wie alle anderen durch den Dreck waten!«
Sie hatte Recht und ich versuchte mich ein wenig zu entspannen, indem ich in meinem Kopf die nächsten unerschrockenen und humorvollen Sätze formulierte, mit denen ich ihr von diesem Abenteuer berichten würde. Immerhin, sagte ich mir, kannte der Kuli den Weg.
Wir rollten am Ward Road-Heim vorbei und bogen in eine der beiden Straßen Richtung Garden Bridge ein, die sich großspurig Broadway nannte, obwohl dort kein einziges Theater, sondern nur Freudenhäuser und Hafenkneipen lockten. Schon von weitem erkannte ich meine Schulkameraden, eine nasse, hoppelnde, blauweiße Schar mit hochgekrempelten Hosen, um die Oberschenkel geschlungenen Röcken, Schuhen um den Hals und Ranzen auf dem Kopf. Sie
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